Seit Ende Juli sind einige Börsianer nervös. Nämlich die, die auf Amerika schauen. Die vergangene Woche verschärfte bei vielen das Gefühl noch. Amerikas Vorzeigepapier Apple verlor einiges an Wert. Und weil Apple eine der schwergewichtigsten Aktien im Dow Jones ist, die alleine knapp vier Prozent des Leitindex ausmacht, schwächelte auch der gesamte Index. Er verlor rund 200 Punkte. Auf einen Monat gesehen hat er jetzt Verluste eingefahren, auf drei Monate gesehen auch. Zudem hat der Dow am 23. Juli die 200-Tage-Linie durchbrochen. Das werten viele als Signal, als Verkaufssignal. Denn wenn der Kurs die magische 200-Tage-Marke nach unten durchbricht, so wissen viele Börsianer, dann könnte das der Anfang vom Ende eines Kursanstiegs sein.
Richtig, es könnte. Es muss aber nicht. Das ist das Tückische bei der 200-Tage-Linie. Und deswegen scheiden sich auch derzeit die Geister, ob man den Durchbruch nun tatsächlich als Verkaufssignal werten muss, oder nicht. Manche machen es sich einfach und sagen: Natürlich, der langfristige Durchschnittskurs sei schließlich noch immer das Maß aller Dinge und ultimativer Trendindikator. Beliebt ist das Konzept vor allem deswegen, weil es so einfach zu verstehen ist: Aus den Schlusskursen der vergangenen 200 Tage bildet man einen Durchschnittskurs. Naturgemäß läuft die Linie den aktuellen Entwicklungen damit hinterher, funktioniert also als idealer Trendfolge-Indikator. Wann immer die 200-Tage-Linie in die entgegengesetzte Richtung abdreht, ändert sich auch die Stimmung an den Börsen. Im Prinzip stimmt das, die entscheidende Frage ist jedoch: für wie lange?
Häufig Fehlsignale
Häufig produziert die 200-Tage-Linie nämlich auch Fehlsignale: Der Kurs überspringt zwar die magische Marke – sendet also ein Kaufsignals aus – sackt dann aber wieder nach unten ab. Schaut man sich den Dow zwischen 2000 und 2002 an, hat er das in dieser Zeit ganze sechsmal getan. Oder er taucht unter die Marke nach unten ab, schwingt sich aber schon wenig später wieder mächtig auf. Im jetzigen Aufschwung seit 2011 hat er das dreimal gemacht. Allein in den vergangenen 12 Monaten hat er die Marke insgesamt zehnmal in irgendeine Richtung durchkreuzt. Hätte der Anleger bei jedem dieser Signale gehandelt, hätte er vor allem eines produziert: hohe Kosten durch Transaktionsgebühren.
Deshalb mahnen manche Börsenbeteiligte zur Ruhe und sagen: Nicht bei jedem Linienkontakt gleich handeln! Erst wenn der Kurs nach längerem Kussinkflug über die 200-Tages-Linie steigt – oder nach längerem Anstieg unter die Linie fällt, sei es angeraten, darauf zu reagieren. Als Beleg dafür erinnern sie an die Jahre 1999, 2003 und 2009. In diesen Jahren kletterte der Kurs nach längerer Baisse wieder über den Durchschnitt und leitete prompt den nächsten großen Aufschwung ein. Nach 1999 wären bis zum nächsten 200-Tage-Signal immerhin 35 Prozent Kursplus gefolgt. Nach 2003 sogar 177 Prozent und nach 2009 dann 44 Prozent. Spätestens das ist der Punkt, an dem man stutzen muss: Seit 2009 kennen die Kurse nur eine Richtung, die nach oben. Da müssen doch mehr als 44 Prozent drin gewesen sein? Eben, seit 2009 stieg der Dow Jones bis zum heutigen Tag um rund 170 Prozent. Siebenmal durchbrach er aber in genau dieser Zeit die magische Marke nach unten und setzte dennoch unbeirrt seinen Weg nach oben fort.
Doch das ruhige Aussitzen solcher Durchbrüche bis zum klareren Trend kann auch ebenso fatal sein: Denn nach 1999 läutete schon das erste Absacken unter den langfristigen Durchschnitt tatsächlich einen schweren Börsenabsturz ein. Einen der schwersten bis dahin. Die erste Lehre, die man daraus ziehen kann ist: Auch trotz der Verfeinerungsregel produzierte der vermeintlich aussagekräftige Indikator in jüngster Zeit gleich mehrere Fehlsignale.
Nervosität berechtigt?
Hat also die 200-Tage-Linie in ihrer Prognosekraft eingebüßt und kann man sie ad acta legen? Es kommt immer darauf an, welche Zeiträume man betrachtet: Über die vergangenen 120 Jahre war sie ein großartiger Indikator. Anleger, die auf ihre Signale hin gehandelt hätten, hätten nur die Aufwärtstrends an der Börse mitgenommen und wären mit dieser Strategie auf 6,7 Prozent Rendite gekommen. Wer dagegen ein Indexpapier auf den Dow-Jones gekauft und bloß gehalten hätte, käme bloß auf 5,1 Prozent Rendite. Doch in den vergangenen Jahrzehnten drehte sich das Blatt: Seit den 50-er Jahren liegen die Rendite der 200-Tage-Trendfolger und der Ewiganleger ungefähr gleichauf, mit leichtem Vorteil für die Langfristbesitzer. Seit 1990 hätte die Strategie mit der magischen Marke 3,8 Prozent Rendite abgeworfen, das Halten dagegen brachte satte 7,3 Prozent Rendite.
Bei solchen Zahlen kann man mit Fug und Recht in Zweifel ziehen, ob die große Nervosität der Dow-Beobachter berechtigt ist. Und ob sich Dax-Anleger deshalb überhaupt Gedanken machen müssen. Denn auf lange Sicht bewegen sich Dax und Dow zwar arg im Gleichlauf, weswegen ein Absinken des amerikanischen Index sicher nicht ohne Spuren am deutschen Index vorbeiginge. Wäre die Trendumkehr beim Dow erreicht, wüssten Anleger auch hierzulande, worauf sie sich demnächst einzustellen hätten. Doch ist es jetzt wirklich schon so weit?
Wenig Vertrauen
Darauf gibt es trotz der magischen Marke leider keine befriedigende Antwort. Deren größtes Problem ist nämlich: Sie funktioniert tatsächlich nur gut, wenn es sehr ausgeprägte Trends gibt. Nun war der Aufschwung seit 2009 groß und anhaltend. Er katapultierte den Dow von 7000 Punkten auf inzwischen 17.700 hinauf. Doch seit gut einem halben Jahr pendelt der Kurs nur noch seitwärts, mit großen Ausschlägen. Genau das ist diejenige Börsenphase, in der man der 200-Tage-Linie am wenigsten trauen kann. Dafür ist sie einfach nicht gemacht. Und diese ziellosen Pendelphasen haben in der jüngeren Vergangenheit deutlich zugenommen.
Die viel spannendere Frage ist aber eine andere: Müsste man denn wirklich etwas unternehmen, wenn man dem Indikator nun vertrauen würde? Die kann man recht einfach und pragmatisch beantworten: Wenn man zu den etwas agileren Anlegern gehört, dann müsste man jetzt wenigstens einen Teil der jüngst angehäuften Kursgewinne realisieren und Papiere verkaufen, zum Beispiel die Apple-Aktie. Wenn die Kurse demnächst tatsächlich fallen und das auch längere Zeit tun, kann man sich irgendwann beruhigt überlegen, ob man kleine Preise auch als Wiedereinstiegskurse nutzt. Ein Anzeichen dafür, wann es soweit wäre, wüsste man ja jetzt. Gehört man jedoch zu den beständigeren Anlegern, ist die Antwort noch leichter: Nein, warum auch? Oder sind Ihnen sieben Prozent auf Dauer nicht genug? Immerhin verdoppelt man damit innerhalb von zehn Jahren sein Kapital.