Nadine Oberhuber ist Wirtschafts- und Finanzjournalistin. Sie schreibt auf Capital.de über Geldanlagethemen
Das Phänomen von der gefühlten Temperatur kennt jeder. Jeder, der bei 30 Grad und schwülwarmer Luft schon einmal gedacht hat, er befinde sich in den Tropen bei mindestens 40 Grad. Oder jeder, der vergangene Woche bei 19 Grad in leichter Brise vor die Tür trat und meinte, es wird Herbst, müsste nicht schon Raureif auf den Autos liegen? Es gibt aber nicht nur gefühlte Temperaturen, sondern auch gefühlte Preise. Denn manchmal fühlt sich die Realität eben noch ein Stückchen schlimmer an, als es die reinen Zahlen anzeigen.
Derzeit, so finden viele Marktteilnehmer, ist das vor allem bei Rohstoffen so. Da sacken die Preise ab, aber nach Ansicht mancher Marktbeobachter viel zu stark. Deshalb kommentierte jüngst eine große Bank: „Der Preisrückgang ist aus unserer Sicht übertrieben.“
Nun lassen sich die Preise an den Weltmärkten ja zu Glück selten von den Gefühlen der Börsianer beeindrucken. Von daher wird dieser Satz vermutlich wenig Wirkung entfalten und man könnte das Empfinden der Bankanalysten ebenso gut unkommentiert lassen. Dennoch verbergen sich dahinter spannende Fragen: Ist der Verfall an den Rohstoffmärkten derzeit tatsächlich so bedenklich? Und wie viel Preissturz wäre denn gerechtfertigt? Derzeit sind die Preise so tief wie seit sechs Jahren nicht mehr. Und falls sie damit über Gebühr gestürzt sein sollten: Was macht den Markt so nervös? Vor allem aber: Was heißt das nun für Anleger?
Schiefe Vergleiche mit der Vergangenheit
Zuerst die nackten Zahlen: Der beliebte Thomson-Reuters/Jeffreis CRB Index, der die Preise von 19 Futures an den gängigen Warenterminbörsen umfasst und als Basis für viele Indexfonds gilt, verlor allein im Juli gut neun Prozent seines Wertes. Auf Jahressicht waren es 18 Prozent und über drei Jahre sogar 30 Prozent Verlust. Er notiert nun in etwa da, wo er im Krisenherbst 2008 notierte und sogar noch 30 Prozent tiefer als vor 15 Jahren. Das klingt natürlich dramatisch. Aber: Es kommt immer darauf an, welchen Index man betrachtet. Der CRB Index wurde nämlich in den vergangenen Jahren mehrfach grundlegend überarbeitet und ist daher heute nicht mehr mit dem vergleichbar, was noch vor 15 Jahren in ihm steckte.
Zum Vergleich also ein weiterer bekannter Index: Der Rogers Commodity Index verlor seit Juli ebenfalls knapp zehn Prozent. Er bildet sehr breit die Preise von 38 Rohstoffen an den Warenterminbörsen in sechs Ländern ab. In ihm stecken Rohstoffe des täglichen Lebens, wie Öl, Heizöl, Baumwolle, Orangensaft und Kaffee. Auf Jahressicht sackte er sogar 33 Prozent nach unten, auf Dreijahressicht 37 Prozent. Sein Kurs steht jetzt ebenfalls knapp über dem Kurs vom Krisenherbst 2008, bei rund 2300 Punkten. Aber: Diese 2300 Punkte sind das Doppelte dessen, was der Index im Jahr 2000 zusammenbrachte. Von daher hat sich sein Preis innerhalb der vergangenen 15 Jahre immerhin knapp verdoppelt. Ist der derzeitige Rückgang da wirklich völlig übertrieben? Oder nur eine übliche Korrektur?

Er ist zunächst einmal die logische Konsequenz, die Anleger aus den Nachrichten aus China ziehen: Dort rauschen die Börsen nach dem jüngsten Aktienhype nach unten. Die Regierung wertet ihre Währung, den Yuan ab und Ökonomen sagen, die Wirtschaft dort werde demnächst vermutlich nicht weiter in den Himmel wachsen, sondern es künftig langsamer angehen lassen. Nur noch sieben Prozent Wachstum trauen viele China derzeit zu. Für hiesige Verhältnisse ist das unvorstellbar viel, für chinesische Verhältnisse dagegen wenig. Schließlich war die Volksrepublik lange Jahre die starke Lokomotive der Weltwirtschaft, die auch andere Schwellenländer und unsere heimischen Exportunternehmen beflügelte. Nun wird sie einen Gang herunterschalten. Das bedeutet, dass sie – als einer der Hauptabnehmer – auch weniger Rohstoffe verbrauchen wird. Also sinken deren Kurse. So weit, so logisch.
Irgendwann kommt der Boden
Dass der jüngste Superzyklus bei den Rohstoffen vorbei ist, dürfte nun die wenigsten überraschen. Das nämlich stellen Marktbeobachter bereits seit 2013 fest – spätestens seit 2013. Seitdem tendieren die Preise seitwärts, nachdem sie zuvor jahrelang nur gestiegen warten und sich auch von der Finanzkrise 2008 sehr schnell wieder erholt hatten. Warum? Das hohe Wachstumstempo in den Schwellenländern hatte zuvor für den Anstieg der Kurse gesorgt, aber ebenfalls dafür, dass viele Produzenten rasend schnell neue Abbaugebiete erschlossen. Sei es nun für Öl, Schiefergas, seltene Erden oder Baumineralien. Das Angebot auf dem Weltmarkt wuchs also ebenfalls. Teilweise so schnell, dass die Überproduktion die Preise drückte, so wie derzeit beim Öl.
Und nun zum Gefühl: Wie geht es weiter, wie weit stürzen die Rohstoffkurse noch? Oder stimmt der Eindruck, dass der jüngste Einbruch übertrieben war und die Kurse wieder steigen werden? Einige Analysten finden zumindest, es könne nicht tiefer hinabgehen. Sie sehen eine Bodenbildung, danach sei ein neuer Aufschwung unvermeidlich. Irgendwann kommt der auch bestimmt, keine Frage. Das Phänomen des Rohstoffmarktes ist nämlich: Bei stark sinkenden Preisen drosseln einige Anbieter die Produktion. Andere können nicht mehr kostendeckend fördern und produzieren. Selbst einer der führenden Rohstoffkonzerne, Glencore, schreibt bereits jetzt rote Zahlen in dreistelliger Millionenhöhe. Schwächere Anbieter gehen vielleicht sogar Pleite. So sinkt das Angebot auf dem Weltmarkt automatisch und die Verknappung führt über kurz oder lang wieder zu steigenden Preisen.
Wann es so weit sein wird, wüssten natürlich alle gern, deshalb üben sich viele in Spekulationen: Zwei Drittel der Unternehmen rechnen laut Umfragen schon mit Preisanstiegen spätestens 2016. Viele sind für das kommende Jahr optimistisch, weil sie auf ein neues Wachstum der US-Wirtschaft setzen. Dagegen warnen andere wie Ex-Pimco-Chef Bill Gross, dass der Rückwärtsgang der Rohstoffpreise zu einer globalen, längeren Deflation führen könnte.
Eine Frage des Gefühls
Tatsächlich sind Rohstoffe und die allgemeine Preisentwicklung eng miteinander verbunden. Wenn die Rohstoffpreise steigen, weil die Wirtschaft wächst, gilt das, wegen steigender Kosten für die Industrie und deren Endprodukte als bester Indikator für eine künftige Inflation. Man muss allerdings sagen: Ausnahmen bestätigen die Regel, denn nach 2008 zogen zwar die Rohstoffpreise an, aber die Inflation zog nicht hinterher. Auch einen anderen Zusammenhang nennen Analysten gern: Rohstoffe sind ebenfalls ein Frühindikator für die Anleihen. Zumindest gibt es klassischerweise zwischen Rohstoffpreisen und Anleihenzinsen einen zeitlich enge Verbindung, bei der die Rohstoffpreise etwa drei bis sechs Monate vorauseilen.
Steigen also die Rohstoffpreise, dann steigen wenig später auch die Anleihenzinsen, diese Grundregel beobachten Börsianer seit den 70er-Jahren. Nun ist die Frage, ob das diesmal, in den Zeiten, in denen nicht der Mart, sondern die Notenbanken den Markt regieren, auch umgekehrt gilt. Denn mit einer Zinswende in den USA rechnen derzeit viele. Noch ist die Wirtschaft nicht genügend angesprungen und die Fed deshalb nicht tätig geworden. Angekündigt hat sie diesen Schritt aber mehrfach.
Es ist also an den Rohstoffmärkten derzeit so wie beim Wetter: Die reinen Indexstände sagen wenig. Vom Gefühl her sagen viele, dass die Preise eigentlich höher sein müssten und viele Rohstoffe derzeit unterbewertet sind. Wenn das auch Ihr Eindruck ist, dann spricht nichts dagegen, sich jetzt einen breiten Rohstoff-Indexfonds zuzulegen. Dann sollten Sie auch weiter an einem derzeit schlecht laufenden Mischfonds festhalten – wenn darin ein hoher Rohstoffanteil steckt. Denn zurzeit verhagelt diese Anlageklasse sehr vielen dieser Fonds die Performance. In jedem Fall aber sollten Sie noch abwarten, falls Sie einen Anleihenkauf planen, ob sich die Rohstoffe nicht doch noch als Frühindikatoren erweisen. Drehen deren Kurse demnächst wieder nach oben: Dann ab auf die Anleihen! Was immer Sie jedenfalls tun, tun Sie es bitte mit Gefühl.