Wenn ein Unternehmen an der Börse 274 Mrd. Dollar an Wert verliert, und das binnen 24 Stunden, dann muss etwas Wichtiges passiert sein – sollte man meinen. Wer aber am Dienstag nach relevanten News zum Chipproduzenten Nvidia gesucht hat, der fand nichts. Weder neue Zahlen noch Übernahmemeldungen – jedenfalls nichts Konkretes, was als Grund dafür taugen würde, dass der Kurs des drittwertvollsten Unternehmens um 9,5 Prozent eingebrochen ist. Und doch war das Unternehmen am Tagesende rund ein SAP weniger wert – ein Rekordverlust in absoluten Zahlen, selbst an der Wall Street. Was ist also passiert?
Der Kursrücksetzer hat mindestens zwei Gründe. Am wichtigsten waren schwache Industriedaten aus den USA, die dem gesamten Markt zusetzten. Der Einkaufsmanagerindex für die US-Industrie stieg im August zwar um 0,4 Punkte auf 47,2 Punkte gegenüber Juli. Von Reuters befragte Ökonomen hatten aber mit einem Anstieg auf 47,5 Punkte gerechnet. Außerdem blieb das Barometer damit immer noch deutlich unter der Wachstumsschwelle von 50 Zählern.
Marktbeobachter werteten das als Zeichen einer schwächelnden US-Wirtschaft, die wiederum auch Nvidia treffen könnte. Der Chiphersteller hat ein massives Klumpenrisiko, da allein vier (nicht genannte) Kunden für 46 Prozent des Gesamtumsatzes stehen. Es dürfte sich dabei wohl um Alphabet, Meta, Microsoft und Amazon handeln. Schwächeln sie, träfe das auch Nvidia massiv. Zwar investieren diese sogenannten Hyperscaler, bzw. Cloudinfrastruktur-Anbieter, bislang unverändert weiter in Künstliche Intelligenz (KI). Aber die neuesten Daten werteten Investoren immerhin als Warnzeichen – nicht nur für Nvidia.
Der Dow-Jones-Index der Standardwerte schloss deshalb am Dienstag 1,5 Prozent tiefer auf 40.936 Punkten. Der technologielastige Nasdaq gab 3,3 Prozent auf 17.136 Zähler nach und der breit gefasste S&P 500 2,1 Prozent auf 5528 Stellen.
Nvidia auf Perfektion bewertet
In diesem grundsätzlich schwachen Marktumfeld verlor Nvidia noch einmal deutlich stärker. Das lag auch an den jüngsten Quartalsergebnissen, die im Zuge der schwachen US-Daten neu interpretiert wurden. Nach der Kursrally in den vergangenen Monaten ist Nvidia, wie Börsianer es nennen, „priced to perfection“ – auf Perfektion bewertet. Jede Zahl, jede Nachricht, die das perfekte Bild ankratzt, schlägt sich umso stärker im Kurs nieder. Und obwohl Nvidia vergangene Woche grundsätzlich starke Zahlen präsentierte, unterboten sie doch die eine oder andere Anlegerfantasie.
Zwar schlugen sie beinahe jede Konsensschätzung von Analysten, aber die sogenannte „Whisper number“, das, was sich Börsianer wirklich erhoffen, die wurde insbesondere beim Gewinn pro Aktie unterboten. Die Konsensschätzung, die Unternehmen mit ihrer Kommunikation traditionell nach unten drücken wollen, um sie dann leichter zu schlagen, lag bei 0,65 Cent pro Aktie. Die Whisper Number bei 0,71 Cent. Heraus kam Nvidia am Ende bei 0,67 Cent pro Aktie, was Anleger dann doch mit Verzug enttäuschte. Außerdem lag die Bruttomarge mit starken 75,1 Prozent über den Schätzungen, sank aber gegenüber dem Vorquartal um mehr als drei Prozentpunkte. Insgeheim hatten sich Analysten erhofft, dass die Bruttomarge Richtung 80 Prozent geht. Und jetzt, angesichts des veränderten Marktumfelds, in dem Analysten Künstlicher Intelligenz offensichtlich weniger Chancen einräumen, schlagen diese Zahlen nachträglich durch.
Nvidia ist deshalb auch nicht das einzige Chipunternehmen, das zuletzt besonders stark verloren hat. Der breite PHLX-Chipindex gab am Dienstag 7,75 Prozent nach. Das war sein stärkster Tagesrückgang seit 2020. Die Sorge, dass sich die hohen Investitionen in KI nur langsam auszahlen könnten, belasteten in den vergangenen Wochen bereits die wertvollsten Unternehmen an der Wall Street. Aktien von Microsoft und der Google-Mutter Alphabet wurden nach ihren Quartalsberichten im Juli niedriger gehandelt.
„In den letzten zwölf Monaten ist so viel Geld in Technologie- und Halbleiterwerte geflossen, dass der Handel völlig verzerrt ist“, sagte Todd Sohn, ETF-Stratege bei Strategas Securities. Experten des Fondsanbieters Blackrock schrieben am Dienstag in einer Mitteilung an Kunden, in einigen neueren Studien werde bezweifelt, dass die Einnahmen aus KI allein die Investitionswelle in die Technologie rechtfertigen würden.