Die Halbleiter-Industrie liefert derzeit vor allem eins: Fragezeichen. Auf der einen Seite vermeldet sie Umsatz-Rekorde und volle Auftragsbücher bis weit ins kommende Jahr. Auf der anderen Seite sind die Aktienkurse seit Jahresbeginn massiv eingestürzt. Allein Infineon fiel seit Jahresbeginn um über 30 Prozent, amerikanische Chiphersteller wie AMD und Nvidia sogar um bis zu 35 Prozent. Wie passt das zusammen? Fünf Gründe, warum Anleger die Unternehmen derzeit aus ihren Portfolios werfen.
1. Halbleiterproduzenten sind Zykliker
Der Erfolg der Hersteller hing bislang maßgeblich von der Wirtschaftsleistung ab. Stieg sie, dann stiegen auch die Umsätze. Fiel sie, dann fielen auch die Einnahmen. Anleger haben sich das gemerkt und stoßen die Aktien angesichts der globalen Risiken für das Wirtschaftswachstum zurzeit ab. „Der Markt glaubt nicht, dass die hohen Orderbestände nachhaltig sind“, sagt Markus Golinski, Portfolio-Manager bei Union Investment gegenüber Capital. „Der Markt spielt das Szenario, dass die Branche gerade den Peak eines Zyklus erlebt. Es kann also nicht besser werden. Ab 2023 rechnet der Markt mit einer schwächeren Nachfrage.“ Die Frage ist aber: Ist das angesichts der immer größeren Bedeutung von Chips und Halbleitern überhaupt realistisch? Die Hersteller sind jedenfalls optimistisch und sagen, dass sie Konjunktureinbrüche mittlerweile mit anderen Sparten kompensieren können. So einfach sei das aber nicht, meint Golinski. „Das ist von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich. Vor allem der Markt für Commodity-Produkte ist hochzyklisch. Da kann sich niemand groß vom Markt absetzen.“ Letztlich hängen die Halbleiter immer am Endkunden, weshalb sie definitiv Zykliker bleiben – der wichtigste Grund für den aktuellen Ausverkauf, der auch allen anderen Erklärungen unterliegt.
2. Lockdowns in China
Die chinesische Zero-Covid-Strategie ist wohl die größte aktuelle Bedrohung für die Chip- und Halbleiterproduzenten. Zwar ist die Produktion nicht kritisch von China abhängig, aber von einigen chinesischen Zwischenprodukten. Das Problem ist: Bis zum fertigen Chip sind rund 1000 Arbeitsschritte notwendig. Aus Sand wird zunächst Silizium, aus Silizium werden Kristalle, aus Kristallen werden Wafer. Und diese Wafer sind erst die Basis für den späteren Chip. Auch China übernimmt Teile dieser Produktionskette. Dazu kommt, dass das Reich der Mitte der größte Absatzmarkt für Halbleiter ist. Diese sind fast überall eingebaut, wo Technik notwendig ist – sowohl in Unterhaltungswaren als auch in Autos. Das Kalkül der Anleger: Sinkt der Konsum in China aufgrund des Lockdowns, dann braucht es auch weniger Halbleiter. Beziehungsweise: Stehen die Fabriken still, können auch keine Smartphones verbaut werden. Der Halbleiterabsatz sinkt und damit der Umsatz.
3. Ukraine-Krieg
In den Kursen sind auch globale Risiken eingepreist, die sich aus dem Ukraine-Krieg ergeben. Damit sind nicht einmal die entfallenen Absatzmärkte in Russland oder der Ukraine gemeint oder Rohstoffe aus einer den beiden Staaten – hier könnte maximal das Edelgas „Neon“ eng werden –, sondern vielmehr globale konjunkturelle Risiken. Falls die Gaslieferungen nach Europa gestoppt werden, wird es eine tiefe Rezession durch die Kaskadeneffekte geben. Da sind sich im Prinzip alle Experten einig. Für die Hersteller von Chips und Halbleitern würde dies wohl geringere Einnahmen bedeuten, da sie vom Konjunkturverlauf abhängig sind.
4. Überkapazitäten
Viele Hersteller können aktuell gar nicht so viel produzieren, wie sie absetzen könnten. Fast alle investieren daher in neue Produktionsanlagen – zum Beispiel der US-Konzern Intel, der in Magdeburg ein neues Werk baut. „Auch wenn Hersteller die knappe Ware jetzt sogar noch allokieren müssen: Irgendwann kommen die geplanten neuen Kapazitäten an den Markt. Und Anleger fürchten, dass der Markt dann in ein Überangebot reinläuft“, sagt Golinski. Die Rechnung geht so: Wenn zu wenig Angebot am Markt vorhanden ist, bestellen Kunden deutlich mehr – sie ziehen Nachfrage faktisch vor. Man könnte auch sagen: Sie hamstern. Sobald die Kapazitäten erhöht sind, entfallen die Vorzieheffekte aber und der Preiswettbewerb setzt wieder ein. Das reduziert die bislang sehr gute Marge.
5. Zinseffekte
Überall auf der Welt stellen sich die Märkte auf steigende Zinsen ein, um die Inflation einzudämmen. Das hat auch Auswirkungen auf die Halbleiterkurse. Allerdings nicht, weil die Unternehmen so stark verschuldet sind und auf Fremdkapital angewiesen sind. Im Gegenteil: „Die Verschuldung ist im Sektor kein großes Problem. Ganz im Gegenteil, die meisten Unternehmen generieren hohe Cashflows und kaufen massiv eigene Aktien zurück “, sagt Portfolio-Manager Markus Golinski. Die Risiken entstehen eher aus dem Makrobild: „Wenn aufgrund steigender Zinsen Investitionen und Konsumausgaben sinken, dann ist das auch für die Branche schlecht“, erklärt er.
Was bringt die Zukunft?
Alles in allem basieren die Kurskorrekturen also auf einem Szenario: Die Weltwirtschaft schwächt sich im kommenden Jahr ab. Wenn das 2023 nicht so eintritt, könnten die Kurse auch relativ schnell wieder steigen. Ohnehin sei die Branche langfristig attraktiv, meint Golinski. „Langfristig profitiert die Nachfrage von zahlreichen strukturellen Zukunftsthemen. In nahezu allen Bereichen steigt der Anteil von Halbleitern in den jeweiligen Produkten. Aktuell sind wir aber im Zyklus sehr weit fortgeschritten. Da warten viele Anleger erst einmal ab.“