Je größer die Frage, desto kleiner fällt meistens die Antwort darauf aus. Die ganz großen Fragen des Lebens kann nie jemand wirklich beantworten: Was ist eigentlich der Sinn des Lebens? Wo führt das alles noch hin? Und wann geht diese Krise endlich vorbei? Letztere wird noch dauern, keine Frage. Noch ist hierzulande nicht einmal das Plateau bei den Infektionszahlen erreicht, auf das alle so sehnsüchtig hoffen. Und auch Europa hat den Gipfel noch nicht überschritten, doch zumindest scheint ein Abflachen der Fallzahlen allmählich in Sicht. Auch der Blick nach China macht Mut.
Und da die Märkte, wie wir wissen, viele Entwicklungen bereits vorwegnehmen und einpreisen, lautet zurzeit die von Anlegern am häufigsten gestellte Frage: War wenigstens die Talsohle bei den Kursen schon erreicht? Denn seit dem Abtauchen des Dax auf 8400 Punkte geht es ja wieder steil bergauf. Aktuell notiert der Leitindex schon wieder bei rund 10.000 Punkten. Also jetzt schnell einsteigen, bevor es endgültig wieder bergauf geht?
Auch darauf aber gibt es derzeit keine eindeutige Antwort. Man kann es aber so sagen: Für Abenteurer und Schnäppchenjäger sind die Zeiten derzeit nicht die Schlechtesten. Sie sollten aber unbedingt das Nervenkostüm eines Bungee-Springers haben. Denn viele Analysten halten es derzeit für wahrscheinlich, dass der Börsenabsturz vom März nicht der einzige Tiefpunkt des Marktes gewesen sein wird. Die Indizes werden weiterhin stark schwanken und vermutlich noch einmal größere Tiefen ausloten.
„Die Unsicherheiten bleiben extrem hoch“
Beim Einsturz der Börsen Mitte März hatten die Kurse etlicher Firmen hierzulande um 50 bis 60 Prozent nachgegeben. Seitdem schossen einige davon auch wieder um 50 bis 80 Prozent bergauf. Die Analysten der DZ Bank formulieren es derzeit am deutlichsten, nämlich so: „Die Unsicherheiten bleiben extrem hoch“ und „die Wahrscheinlichkeit, dass die Aktienmärkte die Tiefs noch mal testen, sollte daher nicht unterschätzt werden.“
Warum? Weil der Blick nach China zwar aktuell beruhigt, doch in Europa ist derzeit noch nicht abzusehen, wann der Lockdown der Wirtschaft gelockert werden kann und wie schnell das vonstatten gehen kann. Vor allem aber: Was danach passiert.
Wie also wird die neue Normalität der Wirtschaft aussehen? Welche Unternehmen und Dienstleister werden unbeschadet überlebt haben – und wie viele haben es eventuell trotz der riesigen Hilfspakete und Notkredite dann doch nicht geschafft? Bisher kann noch niemand wirklich die wahren Ausmaße quantifizieren, geben selbst Analysten von großen Vermögensverwaltern wie Carmignac oder Pimco zu. Eben weil diese Krise keine gewöhnliche ist und damit auch keine berechenbare. Sondern „diese Krise ist anders als alle, die wir bisher erlebt haben, und das macht es schwierig, eine klare Antwort für die Zeit danach zu geben“, räumen auch die Investmentexperten von OFI Investments ein, einer der größten französischen Assetmanager.
Zinsen für Hochzinsanleihen enorm gestiegen
Nun haben sich selbst Harvard-Ökonomen schon daran abgearbeitet, wie sehr dieser Spruch „this time is different“ („diesmal ist alles anders“) tatsächlich für die Finanzkrisen der letzten 800 Jahre zutrifft, doch Fakt ist, dass sich zumindest keiner der Ökonomen zurzeit erinnern kann, jemals einen so plötzlichen und vor allem weltumspannenden Wirtschaftseinbruch wie jetzt erlebt zu haben. Und auch mit sämtlichen herkömmlichen Rechenmodellen werden sich sein Verlauf, seine Dauer und Schwere kaum beziffern lassen. Das bedeutet nicht, dass die erwartbare Erholung ausfallen wird, sondern nur: Wir wissen nicht, wann sie einsetzt und wie sie vonstatten geht. Lediglich eines scheint für viele Analysten klar: Den anfangs erhofften V-Verlauf wird es vermutlich nicht geben. Also die ganz schnelle Erholung innerhalb von ein paar Monaten.
Die gäbe es nämlich nur, wenn schon klar wäre, dass alle Wirtschaftsstrukturen wie bisher erhalten blieben. Tatsächlich wissen wir aber noch nicht, ob das gelingt. Bedrohlich wirkt in dem Zusammenhang vor allem eines: Die Zinsen für Hochzinsanleihen sind enorm gestiegen. Bei den Unternehmenspapieren klafft eine immer größere Lücke zwischen den als solide eingestuften Investment-Grade-Papieren und den Risikopapieren. Sie beträgt inzwischen rund sieben Prozentpunkte. Analysten mahnen hier: Es werde eine Ausfallquote von 50 Prozent bei den Hochzinsunternehmen in den kommenden fünf Jahren eingepreist. Üblich sind hier normalerweise 20 bis 30 Prozent Ausfallquote.
Käme es wirklich so, dass jede zweite Firma in diesem Bereich kollabierte, wäre das ein enormer Schaden, nicht nur für die Wirtschaft, sondern natürlich auch für viele Anleger und Fonds, die sich zuletzt massenhaft solche Hochzinsanleihen in die Portfolios packten, um überhaupt noch nennenswerte Renditen zu erzielen. Der Rat der Experten lautet daher: High-Yield-Anleihen sind mit rund 9 Prozent Rendite gerade extrem verlockend und durchaus eine Beimischung wert. Aber nur für Anleger, die sehr viel Liquidität haben, größere Verluste verkraften können und genug Geduld haben, eine Marktschwäche auszusitzen. Europäische Investmentgrade-Anleihen belohnen ihre Investoren aktuell mit Zinsen von rund 2 Prozent bei langen Laufzeiten und 1,6 Prozent auf Ein- bis Dreijahressicht.
Corona-Folgen sind in den Gewinnprognosen nicht ausreichend berücksichtigt
Zudem weist Carmignac auch auf die enorm ansteigende Staatsverschuldung in vielen Ländern hin. Durch sie wird das Handeln der Notenbanken in Zukunft noch wichtiger und ausschlaggebender. Pimco findet, selbst die enorme Liquidität, die von der amerikanischen Notenbank Fed in den Markt gepumpt werde, reiche vermutlich nicht, um dort schnell wieder zur neuen Normalität zurückzukehren. Es drohe ein Anstieg der Arbeitslosenquote auf 20 bis 30 Prozent. Das würde die Ökonomie nachhaltig schwächen, weil damit massive Summen an Verbrauchereinkommen wegfielen. Und an künftigem Konsum.
Außerdem werde ein Großteil des Geldes, dass Beschäftigte weltweit zurzeit nicht ausgeben, weil sie wegen der Geschäftsschließungen keine Möglichkeit dazu haben, vermutlich nicht gleich mit vollen Händen in die Wirtschaft hinausgeworfen, wenn die Schutzmaßnahmen wieder aufgehoben werden. Sondern viele Verbraucher werden wohl ihr Geld erst einmal sparen, weil sie gerade jetzt erkennen, wie wichtig Rücklagen eigentlich sind.
Insgesamt seien viele Folgen der Corona-Krise in die Gewinnschätzungen der Analysten noch nicht ausreichend eingeflossen, meint die DZ Bank. Daher sei der derzeitige Kursaufschwung mit Vorsicht zu genießen. Vielmehr zeigten die vielen Streichungen von Dividenden selbst bei Großkonzernen, wie ernst die Lage sei. Und wie sagte Kanzlerin Merkel in ihrer Ansprache so treffend? Man sollte sie deswegen auch ernst nehmen. Bis auf gut 8000 Punkte könne der Dax gut noch einmal abrauschen, schätzen die DZ-Bankanalysten. Und sie formulieren auch recht eindeutig: „Bis dieser Tiefpunkt erreicht wird, dürfte es noch einige Zeit dauern. Unsere Volkswirte sehen diesen bisher im zweiten Quartal 2020. Der Aktienmarkt ist von den Tiefs schon deutlich angestiegen, doch ist diese Phase mit dem bisherigen Kursanstieg noch nicht abgeschlossen.“ Wir werden sehen, ob sie Recht behalten.
Apotheken, Medizintechnik und Pharma stechen hervor
Dennoch muss man nun nicht zwingend abwarten, bis dieser neue Tiefpunkt ausgelotet wird. Denn bezeichnend ist, dass sogar viele Dax-Aktien momentan weit unter dem Wert zu kaufen sind, den die dahinterstehenden Konzerne alleine laut ihrem Buchwert haben müssten - also aufgrund ihres Anlagenbestands. Normalerweise beträgt das längerfristige Fünfjahres-Kurs-Buchwert-Verhältnis (KBV) der Daxler rund 1,6, zuletzt sank es unter 1,0, also unter jenen Wert, den allein die Gebäude, Maschinen und Ausrüstungsgegenstände auf dem Papier haben. Künftige Gewinnerwartungen und Marktchancen sind da noch überhaupt nicht eingeflossen. Etliche große deutsche Firmen werden sogar mit einem KBV von 0,3 bis 0,5 gehandelt. Vor allem jene, die am stärksten im Absturz abgestraft worden sind. Und von denen rund die Hälfte die Dividenden zusammengestrichen hat.
Zu den Unternehmen, die sich am besten hielten, gehörten – nicht unerwartet – viele Medizintechnikfirmen und Kliniken, Versandapotheken und Pharmabranche, aber auch Maschinenhersteller wie Draegerwerk und Lieferdienste wie Hellofresh. Am stärksten erholt haben sich nach dem Absturz zudem nicht-zyklische Konsumfirmen und einige Vorreiter der Technologiebranche, so hat die DZ Bank ermittelt. Und sie spricht auch Empfehlungen aus, welche Unternehmenspapiere aus dem Bereich der kleinern und mittleren Firmen Anleger jetzt kaufen gut könnten, weil sie rund 33 bis 60 Prozent unterhalb ihres Kurses vom Februar notieren. Und welche Dax-Konzerne besonders interessant sind obwohl – oder gerade weil – sie 25 bis 33 Prozent verloren haben.
Bei den deutschen Unternehmen sind den Analysten zufolge zum Beispiel folgende Aktien einen Blick wert, auch in folgender Reihenfolge: Bilfinger, Euroshop, Aareal Bank, Hugo Boss, Pro Sieben Sat 1, Continental, Sixt, Heidelberg Cement, Jenoptik, Infineon, Duerr, Hornbach, Lanxess, Wacker Chemie und DWS. Bei den Dax-Konzernen könnte man sich BMW, BASF, Siemens, Allianz, Bayer und RWE näher ansehen.
Wer jetzt einsteigt, braucht Cash und Geduld
Die Europa-Liga setzt sich demnach zusammen aus Werten wie: Erste Group, Credit Agricole, Anheuser Busch, Dialog Semiconductor, Capgemini, Total, Telefonica, Veolia und BT Group. Und die amerikanischen Firmen, bei denen man jetzt zuschlagen könnte, wären Citigroup, General Motors, DuPont, American Express, JP Morgan, Disney, Honeywell, Qualcomm, Mastercard, Linde, Bristol-Myers Squibb und Intel. Und außerdem gäbe es jetzt einige wirkliche Bigshots, also Aktien, bei denen man sich bisher vielleicht schon lange ärgerte, sie nicht im Depot zu haben, weil man immer zu langsam war. Bei denen würde sich jetzt das Aufstocken lohnen: Facebook, Apple, Coca-Cola, Paypal und Adobe gehören dazu.
Wie gesagt: Wer den Sprung in den Markt jetzt wagt, der sollte das nicht aus der Not heraus tun, sondern nur, wenn er genügend Cash zur Verfügung hat und auf größere Summen verzichten kann. Denn er muss damit rechnen, dass sich der Einstieg erst einmal anfühlt wie beim Bungee-Sprung, bei dem der Springer den Kontakt zum Boden verloren hat und deshalb nicht weiß, wie lange die rasante Aufwärtsbewegung noch dauert oder ob es noch einmal heftig abwärts geht.
Ganz am Ende jedenfalls, wenn sich die Gummibänder der Weltwirtschaft wieder beruhigt haben werden, werden die Mutigen, die jetzt springen, sich aber hoffentlich ein Stückchen weiter oben einpendeln als es Bungee-Jumper tun. Die bleiben ja meist ziemlich weit unten hängen, bevor sie vom Seil genommen werden.
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