Nadine Oberhuber ist Wirtschafts- und Finanzjournalistin. Sie schreibt auf Capital.de über Geldanlagethemen
Die Bullen sind los. Augenblicklich in Südamerika. Zumindest gerieten die Börsen dort in den vergangenen Wochen ganz schön in Bewegung und galoppierten dem Rest der Welt gehörig davon: Im ersten Quartal 2016 schoss der brasilianische Bovespa mit knapp 20 Prozent Kursplus an fast allen anderen Aktienindizes vorbei. Der argentinische Merval legte um immerhin 15 Prozent zu. Und das, während hierzulande die Kurse nur so krachten und sich viele fragten, ob ein neuer Crash bevorstehe. Treten also die Industrieländer auf die Bremse, wohingegen die Staaten Lateinamerikas bald den großen Schub erleben?
Die Kurssprünge seien klare Zeichen, frohlocken derzeit etliche Analysten, dass es in ganz Lateinamerika nun wieder so richtig losgehe. Denn wenn die Zugbullen des Kontinents losliefen, dann würde ihnen doch die gesamte Herde der übrigen Länder bald folgen. Zudem sei die Stimmung der Anleger erstmals seit 2015 wieder positiv dem Kontinent gegenüber. Wagen Sie Südamerika jetzt! So lautet ihre Devise.

Doch genauso wie der gemeine Mitteleuropäer weiß, dass eine Schwalbe noch keinen Sommer macht, müsste ihm auch schwanen, dass ein Rindvieh noch längst keine Herde macht und Bulle noch längst keinen Bullenmarkt. Warum also legen die Aktien in Brasilien und Argentinien zurzeit so stark zu?
Verfahren gegen Präsidentin Rousseff treibt Börsen an
In beiden Fällen liegt das an den Präsidenten: In Brasilien, der Volkswirtschaft Nummer Eins des Kontinents, herrscht die schlimmste Rezession seit 100 Jahren. Die Arbeitslosigkeit ist allein auf Jahressicht um rund 40 Prozent gestiegen. Die politische Kaste ist derweil heillos zerstritten und in Korruptionsskandale verwickelt, was dringend notwendige Reformen blockiert. Eigentlich gibt es keinen Grund zum Frohlocken, außer man würde sagen: Schlimmer kann es nicht mehr kommen. Vielleicht wird es aber auch bald wieder besser, denn gegen Präsidentin Dilma Rousseff läuft ein Amtsenthebungsverfahren – und genau das ist der Grund für den Börsenjubel.
Die Erleichterung über eine mögliche politische Neuordnung ist groß. Sie ist der wahre Grund dafür, dass die Aktien nach fünf Jahren Verfall und einem 37-prozentigen Absturz 2015 nun wieder nach oben drehen. Wie aber sieht es langfristig aus?
Zumindest nicht rosig. Brasiliens Wirtschaft schrumpft um 3,5 Prozent, die Industrie ist schwach, der Einzelhandel auch und sinkende Rohstoffpreise haben die Landeswährung Real stark gedrückt. Ohne politische Reformen wird sich an all dem wenig ändern. Mit Reformen wird es wohl trotzdem eine Weile dauern, bis das Land aus dem Gröbsten raus ist. Für den ganz großen Aufgalopp der Bullen gibt es daher nur sehr wenig Auslöser, wenn man ehrlich ist.
Zu späte für den Einstieg in Argentinien?
Im Nachbarland Argentinien, der Nummer Drei in Südamerika, sieht es da schon ein wenig besser aus. Es kommt zwar momentan auch nicht auf ein positives Wirtschaftswachstum, sondern schleppt sich mit Nullwachstum dahin. Die Argentinier haben aber gerade mit Mauricio Macri einen wirtschaftsliberalen Präsidenten gewählt. Er setzte sich im Dezember knapp gegen den Kandidaten des linken Spektrums durch. Macri gilt als großer Hoffnungsträger, muss sich aber auch erst mal beweisen. Als erste Amtshandlungen schaffte er die Exportsteuern auf Agrargüter ab, von denen das Land der Rinderzüchter stark lebt, genauso wie die Kapitalkontrollen. So richtig viel Auftrieb verpasste das den Börsenkursen allerdings nicht: Zwischen Ende November und Januar verlor der argentinische Index Merval satte 33 Prozent. Erst seit Ende Januar legt er zu.
Argentiniens Aktienmarkt lief aber auch in den vergangenen Jahren extrem gut. Auf Zehnjahressicht gewann er sagenhafte 621 Prozent. Zuletzt unter immer größeren Ausschlägen in beide Richtungen. Wenn überhaupt, müsste man also fragen, ob es für einen Einstieg nicht längst zu spät ist und ob der Markt nicht bereits das Beste hinter sich hat. Viele Beobachter warnen schon länger, dass zu viel „heißes Geld“ in diesem Markt stecke. Es ist also gut möglich, dass die Herde der Anleger bei der nächsten überraschenden Nachricht so richtig ins Laufen gerät – aber eher aus dem Markt raus als in den Markt hinein.
Insgesamt ist Argentiniens Wirtschaft immer noch stark auf Rohstoffexporte ausgerichtet, deren Preise sich noch nicht ansatzweise erholt haben. Auf zukunftsträchtige Technologien kann es nicht unbedingt setzen. Es knabbert außerdem an einer gigantischen Inflationsrate von 20 Prozent und leidet immer noch an den Folgen der Staatspleite im Jahr 2001. Das Vertrauen der Bürger in Banken und Altersvorsorge ist zerrüttet, heißt es. Die Landeswährung Peso fällt. Die Wahrscheinlichkeit ist jedenfalls groß, dass die nächste große Nachricht eher eine schlechte sein wird.
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Und die übrigen? Venezuela steht noch schwächer da. Mexiko, das als Schwellenland von den Analysten eher zu den aufstrebenden Staaten Südamerikas gezählt wird als zum Norden, ist die Nummer zwei der dortigen Volkswirtschaften. In Mexiko geht es leicht bergauf, ihm trauen einige Analysten auch das größte Potenzial in nächster Zeit zu. Kolumbien, Chile und Peru erhoffen sich immerhin ein eindeutig positives Wachstum und peilen vier Prozent dafür an. Das wäre dann tatsächlich beachtlich. Doch sind die drei Länder zu klein, um einen nennenswerten Schub für ganz Lateinamerika auszulösen.
Die Ursache für diese Steigerungsrate – und das ist auch das größte Pro-Argument, das für den gesamten Kontinent spricht – ist die wachsende Bevölkerung. Sie treibt die Wirtschaft. Aber man muss ehrlich sagen: Der übrige wirtschaftliche Fortschritt ist viel zu gering. Nur 22 Prozent seines Zuwachses erzielt Südamerika wirklich aus Produktivität. Das Bildungsniveau ist niedrig, die Investitionen in Forschung und Entwicklung auch. Sehr viele Patentanmeldungen gibt es nicht. Dafür sind die Staatshaushalte überschuldet, die Steuereinnahmen sanken zuletzt mit den Rohstoffpreisen und die Infrastruktur ist marode, was die Transportkosten für Handel und Industrie in die Höhe treibt. Außerdem sind die Sparquoten im Inland niedrig.
Eins ist sicher: Südamerika braucht Kapital aus dem Ausland. Deshalb haben sich die drei Börsen von Kolumbien, Chile und Peru nun auch zusammengeschlossen, um neues Anlegergeld anzuwerben. Sie wollen größer und liquider werden und hoffen auf mehr Aktionäre und auch größere Pensionsfonds, die bei ihnen künftig anlegen. Ob dieser Wunsch allein aber wirklich schon reicht, damit in Lateinamerika künftig langfristig die Kurse davon galoppieren?
Anleger müssen sich gut überlegen, ob jetzt wirklich der richtige Zeitpunkt ist, um dort zu investieren. Wer trotz das aller schlechten Nachrichten glaubt, kann zum Beispiel einen Indexfonds (ETF) auf einen der einzelnen Landesindizes kaufen oder einen ETF auf den MSCI EM Latin America. Er sollte aber auch wissen: Argentiniens Aktienmarkt notiert derzeit so hoch wie noch nie. Und Brasiliens Kurse nehmen seit fünf Jahren nur einen Weg: denjenigen seitwärts-abwärts, den grasen sie nun seit einer Weile mit großen Schwankungen nach oben und unten ab. Ob da also demnächst wirklich die Bullen los sind? Skeptiker sollten vielleicht lieber auf Rindviecher setzen, die Naturalrendite versprechen. Investieren Sie doch erstmal in ein herzhaftes argentinisches Steak.