Nadine Oberhuber ist Wirtschafts- und Finanzjournalistin. Sie schreibt auf Capital.de über Geldanlagethemen
Abwarten und Tee trinken ist gemeinhin das, wozu Menschen raten, wenn Entscheidungen anstehen, die man selbst nicht beeinflussen kann. Abwarten mag eine gute Lösung für besonders Geduldbegabte und Optimisten sein. Und auch das Teetrinken – das ursprünglich ein Ratschlag für ungeduldige Kranke war – klingt in diesem Fall nach einer stimmigen Lösung. Schließlich geht es um die Briten, die als allgemein als Teetrinker gelten. Am 23. Juni stimmen sie darüber ab, ob ihr Land weiter in der Europäischen Union bleiben soll, oder ob sie freiwillig aus der Staatenunion austreten. Täten sie Letzteres, hätte das wohl enorme Auswirkungen auf die Wirtschaft und auch die Finanzmärkte in der EU. Manche befürchten das ganz große Börsenbeben, wenn Großbritannien am 23. Juni „Leave“ sagt.
Genau das ist der Grund, weswegen vielen Ökonomen und Börsianern das Abwarten in diesem Fall so schwer fällt. Denn das „Nein“ hätte für die Märkte, die Unternehmen und die Anleger milliardenschwere Konsequenzen und hohe Verluste zur Folge. Und die will keiner riskieren. Derzeit überschlagen sich noch die Horror-Prognosen, wie groß die Auswirkungen in Euro und Cent wären. Manche gehen von Kurseinbrüchen von 30 oder gar 40 Prozent innerhalb kürzester Zeit aus.
Und eindringlich warnen Ökonomen vor dem Verlust der Wirtschaftskraft Großbritanniens, der auch andere EU-Staaten treffen könnte. Im günstigsten Fall soll das Minus 3,8 Prozent bis 2030 betragen, im schlimmsten Fall könnte Großbritanniens Wirtschaft in den kommenden Jahren rund 7,5 Prozent seines Sozialprodukts verlieren. Auch hierzulande wären die Folgen spürbar, wenn auch nicht in dem Ausmaß. Deshalb müsse der Brexit unbedingt verhindert werden, darin sind sich 85 Prozent der deutschen Ökonomen einig. Denn der Verlust wäre ungleich größer als der vermeintliche Gewinn, den britische Euroskeptiker offenbar erwarten.
Ungewissheit macht Investoren nervös
Die britische Bevölkerung sieht das anscheinend anders, denn momentan gibt es in den Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Befürwortern und Gegnern. Es ist also völlig offen, wie die Abstimmung am 23. Juni tatsächlich enden wird und jegliche Spekulation über ihren Ausgang gleicht im Moment einem Blick in die Glaskugel. Genau das ist es, was die Finanzwelt so nervös auf das Ereignis hinfiebern lässt. Und auch manchen Aktionär.
Dabei kennen Anleger dieses Gefühl nur zu gut. Haben sie wirklich an irgendeinem Punkt in der Vergangenheit jemals gewusst, wie sich die Börsen in den folgenden Monaten entwickeln werden? Eben. Die Kunst ist es, sich davon gerade nicht in den Wartestand versetzen zu lassen und schon gar nicht vor dem Brexit den kompletten Exit aus dem Finanzmarkt zu wählen. Denn wer in solchen Situationen das Parkett verlässt und mit dem Wiedereinstieg auf eindeutige oder gar positive Signale wartet, der wartet an der Börse vermutlich ein Leben lang – und verschenkt dabei viel Kurspotenzial.
Nun wüssten ja alle gern, ob es den europäischen Aktienmarkt demnächst hinaufjubelt oder hinunterprügelt – je nachdem, ob der Brexit kommt oder nicht. Der Versuch, die schlimmste mögliche Variante (den Brexit) vorherzuberechnen, bringt in diesem Fall nichts. Denn die Eintrittswahrscheinlichkeit liegt bei Fifty-Fifty. Und ist damit genauso hoch wie bei jedem anderen Aktienkauf: Kurzfristig hat man immer eine 50-prozentige Chance, dass der Kurs in nächster Zeit steigt und eine 50-prozentige Chance, dass er sinkt. Kein Ökonom dieser Welt kann hier jemals eine bessere Antwort geben. Das heißt aber nicht, dass man dieser Unsicherheit nicht auch etwas Positives abgewinnen kann.
Das klingt vielleicht gefährlich, gerade jetzt über die Geldanlage nachzudenken, wo die Aussichten so ungewiss sind. Aber Fakt ist: Selbst im schlimmsten anzunehmenden Fall (dem Brexit) wären die Folgen für Anleger nicht bloß negativ. Man könnte aus den sinkenden Kursen ja auch Profit schlagen, wenn man sich gedanklich darauf vorbereitet hat. Schlimm wären die Kursverluste ja nur, wenn sie a) gar nicht kämen, man selber aber aus Angst vor diesen Verlusten bereits den Markt verlassen hätte und dann am Kursaufschwung gar nicht beteiligt wäre oder lange Zeit nicht mehr zurück zum Aktieninvestment fände. Oder b) wenn sie kämen, man aber bis dahin einfach abgewartet hätte, weil man insgeheim hoffte, es würde gar nicht so weit kommen – und dann von der Realität überrascht würde.
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Spielen wir einmal beide Referendums-Ausgänge durch: Die Briten entscheiden sich gegen den Verbleib in der EU und treten raus. Dann wird kurzfristig der Trubel an den Börsen groß, die europäischen Aktienmärkte werden rasch und heftig einbrechen, weil viele ausländische Investoren panikartig ihr Geld aus Europa abziehen, aus Angst, andere Länder könnten nun den Briten folgen. Bundesanleihen werden dann vermutlich als sicherer Hafen wieder gefragt sein, das bedeutet steigende Kurse, aber weiter sinkende Renditen. Anleihen sind für Privatanleger also sicher nicht das Gebot der Stunde.
Finger weg vor großen Konsumwerten
Vermutlich wird das britische Pfund 15 bis 20 Prozent abwerten, schätzen Investmentbanken wie Goldman Sachs und Morgan Stanley, vielleicht wird es sogar dauerhaft die Euro-Parität erreichen. Großbritannien wird ohne den Handel mit der EU an Wirtschaftskraft verlieren, das schwächt seinen Binnenkonsum, es werden vielleicht eine halbe Million Arbeitsplätze wegfallen und der Finanzplatz London verliert viele Milliarden Euro an Einnahmen. Aber auch deutsche Firmen würden schwächeln, wenn mit den Briten ein großer Absatzmarkt wegbricht, immerhin ihr drittgrößter nach den USA und Frankreich.
Was also folgt daraus für Investoren? Wer an dieses Szenario glaubt, der sollte sich zurzeit entweder ganz von britischen Aktien fernhalten, um wenigstens mit ihnen nicht den möglichen Einbruch zu erleiden. Auf jeden Fall aber sollte er von großen Konsumwerten wie Sainsbury die Finger lassen, weil eine Konsumflaute der Briten wahrscheinlich ist. Sowie von Immobilienaktien, die unter dem Rückzug vieler internationaler Firmen vom Finanzplatz London leiden werden.
Er kann aber genauso gut vom Brexit profitieren. Denn kurzfristig könnte er auf eben diese fallenden Kurse bei den Briten setzen und einen Short auf den Index FTSE 100 kaufen, etwa von DB X-Trackers. Das ist natürlich gewagt, tritt der Brexit nicht ein, verliert man damit Geld und die Chancen stehen 50:50. Es geht aber auch mit langfristigem Anlagehorizont, damit würde man nicht nur beim Austritt Großbritanniens gewinnen, sondern auch, wenn die Briten in der EU blieben. Dazu könnte der Anleger ausgewählte britische Einzelaktien kaufen – erst recht wenn ein Kurssturz sie verbilligt. Denn wertet das Pfund ab, wird der Export für viele Firmen Großbritanniens günstiger, das könnte ihnen einen Absatzschub bescheren. Gerade die Traditions- und Großunternehmen im Index FTSE 100 könnten also eine Kaufchance sein, falls der Brexit kommt.
Pro-EU-Ausgang wird Kurse beflügeln
Umgekehrt sollte man – so man den Britenaustritt erwartet – deutsche Autobauer und Maschinenbauer sowie die Chemieproduzenten oder Versorger wie Eon jetzt schon eher im Depot untergewichten. Denn sie sind diejenigen, deren Geschäft am stärksten an Großbritannien hängt und beim Austritt leiden wird. Anleger können sie später in dieser Schwächephase wieder nachkaufen. So wird ein Renditepotenzial draus.
Fällt das Referendum dagegen für den Verbleib in der EU aus, so ist die Sache recht einfach: Das wird die Kurse beflügeln. Nicht nur die britischen Aktien, sondern auch die übrigen europäischen, da sind sich Marktbeobachter sicher. Wer also lieber auf diese Aussicht setzt, der sollte sich einen FTSE Long zulegen, der kurzfristig in die Höhe schnellen könnte. Oder er sollte langfristig bei den Indexfonds nachladen und seine Eurostoxx-Bestände aufstocken. Oder sogar breit auf den britischen Index setzen und etwa den Ishares UK Dividend kaufen. Auf jeden Fall sollte er damit aber nicht lange warten. In drei Wochen ist der Wahlausgang klar und der Tee getrunken.
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