Auf mein Editorial in der jüngsten Ausgabe von Capital habe ich einige Reaktionen erhalten. Nach einer unfreiwillig langen Zugfahrt von Berlin nach Köln und wieder zurück hatte ich darin den beklagenswerten Zustand der Deutschen Bahn mit der allgemeinen eingetrübten Stimmung im Land und der zunehmenden Sorge vor einem langsamen wirtschaftlichen Niedergang des ganzen Landes verwoben.
Einige Leser fragten daraufhin nach meiner genauen Bahnverbindung, sie müssten wohl im selben Zug gesessen haben. Wir stellten dann jedoch fest, dass es unterschiedliche Verbindungen waren – aber wir erkannten auch ein Muster der Pleiten und Pannen, was es freilich nicht besser macht. Andere Leser und Leserinnen wiederum baten darum, nicht alles im Land so schwarz und schlecht zu malen; interessanter als die Probleme seien doch der Fortschritt und die Lösungen – und Recht haben sie!
Die Zuschriften und Kommentare fand ich auch deshalb spannend, weil ihr Spektrum sehr schön die Erfahrungen spiegelt, die wir alle wahrscheinlich jeden Tag machen: Viele arbeiten in ihren Jobs an kleinen und großen Veränderungen, an technischen Neuerungen. Wir hören von den großen Plänen zum Umbau und zur Transformation ganzer Industrien und, ja, des ganzen Landes – und erleben zugleich auch, was sich verzögert, was feststeckt und aufgerieben wird zwischen Widerständen und unterschiedlichen Interessen. Mit Leidenschaft stürmen wir los und merken doch immer wieder, wie zäh und langsam der Fortschritt sein kann.
Deutschland braucht die Innovationskraft seiner Unternehmen
Deutschland ist (immer noch) die viertgrößte Volkswirtschaft der Erde, ein reiches Land, in dem es hinter jedem Hügel und jeder Kurve ein hochproduktives und innovatives Unternehmen zu entdecken gibt: Vor gut zwei Jahren besuchten wir etwa den Mittelständler Mennekes im sauerländischen Kirchhundem, einen Spezialisten für Elektrokabel und Steckverbindungen. Mennekes hatte früh den Wandel in der Autoindustrie erkannt und auf E-Autos gesetzt – mit einem Ladestecker, der heute Standard in der EU ist. Vor zwei Jahren hatte das Unternehmen 1300 Mitarbeiter, und Firmenchef Christopher Mennekes plante die Expansion: neue Produktionsstraßen für Kabel, Stecker und Ladestationen. Heute hat er 1600 Angestellte – und er sucht laufend neue.
Mennekes war für uns ein Beispiel für jene Innovationskraft, die in den kommenden Jahren den Wohlstand des Landes sichern muss: Unternehmen und Unternehmer, die zwar nicht mit dem Getöse eines Elon Musks auftreten, die aber ebenso nach den Sternen greifen – so wie, um ein zweites Beispiel zu nennen, das Bremer Familienunternehmen OHB, das in diesem Jahr erstmals eine Rakete von einem schwimmenden Weltraumbahnhof in der Nordsee ins All schießen will. Die Liste solcher Entdeckungen jenseits der großen Konzerne, die die Wirtschaftsnachrichten dominieren, ließe sich mühelos fortsetzen.
Zur Wahrheit gehört aber eben auch: Der Titel unserer großen Geschichte vor zwei Jahren über Unternehmen wie Mennekes ist bis heute gültig: „Große Erwartungen“. Darin schwingt ja immer auch mit: Vieles ist möglich, die Hoffnungen sind groß – aber leider in beträchtlichem Maß auch noch unerfüllt. Der große Aufschwung, der nach der Corona-Rezession für die Jahre 2021 und 2022 eigentlich fest eingeplant war, wurde hinweggefegt von Russlands Einmarsch in die Ukraine, der folgenden Energiekrise, sowie dem sprunghaften Anstieg der Inflation und der Zinsen. Heute müssen wir uns eingestehen: Die vielen großen Pläne zum Umbau und zur Modernisierung der Volkswirtschaft waren gebaut auf der Annahme billigen Geldes. Jetzt muss neu gerechnet werden, denn alle Kräfte und Ressourcen sind plötzlich knapp und teuer.
Das macht den Aufbruch so mühsam und anstrengend, auch in unserem Alltag: Wir müssen neue Produkte und Geschäfte wagen, allerdings bei engeren Budgets. VW etwa leidet nicht allein unter einer Absatzflaute in China, sondern auch unter einer Kaufzurückhaltung hierzulande. Das Geld sitzt nicht mehr so locker. Natürlich kämpfen nicht alle Branchen mit Problemen wie die Auto- oder Chemieindustrie – aber diese beiden Branchen waren und sind für Deutschland so wichtig, dass die Stimmung dort vieles überlagert. Bei Mennekes und OHB mögen die Geschäfte weiter brummen, die Frühindikatoren für das gesamte Land weisen in eine andere Richtung: Zum zweiten Mal in Folge fiel im Juni der ifo-Geschäftsklimaindex. Er liegt jetzt bei 88,5 Punkten, drei Punkte weniger als im Mai, das ist der niedrigste Stand seit November 2022, als viele Unternehmen noch einen akuten Gasmangel im Winter befürchten mussten. Viele Ökonomen rechnen inzwischen damit, dass Deutschlands Wirtschaft in diesem Jahr schrumpfen wird.
Wie fahren wir den Motor der deutschen Volkswirtschaft wieder hoch?
Aufbruch und Ausbau auf der einen Seite, Rückbau und Schrumpfen auf der anderen Seite sind ganz normale Prozesse in einer Volkswirtschaft, sie sind sogar richtig und wichtig. Doch Pandemie, Krieg und Inflation in den vergangenen drei Jahren haben diesen Widerstreit zwischen Altem und Neuem bei uns verdichtet. Der Strukturwandel findet nicht versteckt statt, irgendwo hinter einer Kurve oder einem Hügel bei irgendeinem Mittelständler, sondern überall und jeden Tag.
Hinzu kommt, auch das hat sich in den vergangenen Monaten gezeigt: Die Pläne der Ampelkoalition zur Modernisierung der Energie- und Verkehrsinfrastruktur waren nicht nur nicht seriös finanziert, sie waren auch nie wirklich zu Ende gedacht. Dass für Deutschlands Klimaziele fünf bis sechs Windräder pro Tag gebaut werden müssen, war schnell gesagt. Ebenso das schöne Wort vom neuen „Deutschland-Tempo“, das der Kanzler zwischenzeitlich gern verwendete. Doch wie mühsam und zeitraubend es sein kann, auch nur ein Windrad zu errichten und zu betreiben, das zeigt sich eben erst, wenn man die ersten Bauanträge ausfüllt.
Ich war in dieser Woche zu einem Abendessen mit knapp 20 Managern und Unternehmern aus ganz unterschiedlichen Branchen eingeladen, und der ganze Abend kreiste im Grunde um diese eine große Frage: Wie fahren wir den Motor der deutschen Volkswirtschaft wieder hoch, wie schaffen wir unter erschwerten Bedingungen doch noch den großen Aufbruch? Es gab viele Ideen und Vorschläge – ein besseres Bildungswesen, mehr Einwanderung, weniger Bürokratie –, es war, wenn man ehrlich ist, alles auch ein bisschen erwartbar. Richtig, aber nicht wirklich neu.
Bis ein Teilnehmer, ein erfolgreicher Gründer aus der Tech-Szene, das Wort ergriff und etwas Bemerkenswertes sagte: Er teile alles Gesagte, aber er sehe noch ein anderes Problem: Er persönlich habe das Ziel verloren, eine Vision, eine große Geschichte, wohin wir alle, und natürlich auch die Politik, mit dem Land hinwollen. Eigentlich habe er gedacht, die Regierung habe sich so ein Ziel vorgenommen – Klimaschutz und Digitalisierung –, doch diese Ziele seien für ihn nach dem Krisenjahr 2022 und dem Streit der vergangenen Monate in der Ampelkoalition nicht mehr erkennbar. Solange dieses Ziel aber verloren sei, mache auch niemand mehr mit, beziehungsweise hätten die meisten den Glauben an Wandel und Aufbruch verloren.
Interessant war die Reaktion am Tisch: Kein Widerspruch kam auf, kein Zweifel, ob das wirklich alles so richtig sei mit der Energiewende, der Elektromobilität und der Modernisierung der Infrastruktur. Es zeigte sich: Die Bereitschaft ist nach wie vor da, zu investieren und loszulegen, gerade in den Unternehmen. Aber es fehlen im Moment die Orientierung und die Vision. Um voranzukommen, brauchen wir genau diesen Ehrgeiz, die großen Erwartungen, selbst dann, wenn sie noch unerfüllt sind. Wahrscheinlich kann man es auf diese Formel bringen: Wir brauchen eine Rückbesinnung auf das, was vor dem Februar 2022 als richtig und notwendig erkannt war – wir müssen zurück in die Zukunft.