Vor wenigen Tagen schlugen Europas Arbeitgeber Alarm: Laut einer Studie des Kölner IW-Instituts für den europäischen Arbeitgeberverband Business Europe ist unser Wohlstand durch zunehmende Deindustrialisierung bedroht. Während die Schwellenländer einen immer größeren Anteil an der globalen Produktion liefern, wird der europäische Anteil immer kleiner.
So weit so gut. Die große Frage ist: Lässt sich kurzfristig der Trend zur Deindustrialisierung drehen? Natürlich kann man hier und da noch ein VW-Werk bauen. Doch ist es möglich, in Griechenland oder Irland in großem Stil Industrie anzusiedeln? Die große Chance liegt für Europa letztlich in neuen Technologien, aus denen dann hoffentlich irgendwann wieder Industriezweige entstehen – oder eben Servicebranchen. Am schnellsten geht das im IT-Sektor. Einfach formuliert: Ein Internet-Start-up lässt sich in Athen oder Lissabon leichter hochziehen als eine Autofabrik.
Doch gerade hier gibt es noch viel zu tun. Es ist Zeit für die zügige Umsetzung einer europäischen Digitalagenda. Ihre Eckpunkte wurden längst skizziert. Zum Beispiel im „Europäischen Startup-Manifesto“.
Herausforderung durch IT-Giganten begegnen
Firmen müssten die Chancen des EU-Binnenmarkts besser nutzen. Also mehr kooperieren - und im besten Fall fusionieren, siehe Airbus. Das gilt auch für die IT-Industrie, wo europäische Firmen großen US-Giganten wie Google gegenüberstehen. Das hieße dann zum Beispiel: Die Onlinehändler Asos und Zalando könnten fusionieren. Auch Brüssel ist hier gefragt. EU-Wettbewerbshüter sollten hier mehr zu lassen. Und Unterschiede zwischen den EU-Märkten müssen weiter abgebaut werden.
Viele weitere Schritte sind notwendig, um die europäische IT-Wirtschaft global konkurrenzfähiger zu machen. Europa muss sich mehr anstrengen die besten Fachkräfte und Talente auf den Kontinent zu holen – oder auch auf dem Kontinent zu halten. Im Silicon Valley arbeiten Schätzungen zufolge etwa 50.000 Deutsche. Rund 500 Start-ups werden dort angeblich von französischen Gründern geführt. Es gilt darum den Brain-Drain zu stoppen und die besten Leute von anderen Kontinenten anzuwerben. Ein Vorschlag des Start-up-Manifests: Ein pan-europäisches Start-up-Visum. Sehr gute Idee!
Das Fachkräfte-Problem muss zudem früh angegangen werden. Bereits in den Schulen sollten junge Leute an Unternehmertum und ans Programmieren herangeführt werden. Wirtschaft als Fach sollte auf die Lehrpläne gehoben werden. An den europäischen Unis müssen vielmehr Programme und Ökosysteme für Ausgründungen geschaffen werden. Im Vergleich zu den USA hinken wir hier weit hinterher. Und warum gibt es nicht vielmehr Initiativen, die junge Leute aus Südeuropa zu Programmierern umschulen?
One-Stop-Shops für Firmengründer
Die Hürden für Firmengründungen sind zudem immer noch zu hoch. Im Doing-Business-Index der Weltbank findet sich unter den ersten zehn Plätzen kein einziges EU-Land. Deutschland liegt gerade einmal auf Platz 111. Hierzulande dauert es im Schnitt 15 Tage um eine Firma zu gründen. Ein Vorbild ist Neuseeland: Dort dauert es gerade einmal einen Tag. Auch Litauen und Niederlande sind innerhalb der EU Vorbilder, wo eine Firmengründung immerhin nur sechs beziehungsweise vier Tage dauert. One-Stop-Shops wären eine gute Sache. Reform-Vorbild ist hier übrigens auch Euro-Krisenland Portugal, was in diesem Bereich große Leistungen vollbracht hat. In Lissabon sprießen derzeit die Start-ups aus dem Boden.
Gründungsregularien sind zudem zu unterschiedlich von EU-Land zu EU-Land. Sie sollten vereinfacht und vereinheitlicht werden. Es sollte eine optimierte europäische Gründungs-Gesellschaftsform geben. Hier laufen schon einige Initiativen. Aber eigentlich müsste schon viel mehr passiert sein, um Europa wirklich radikal zu einem Paradies für Firmengründungen zu machen.
Und schließlich gibt es da noch das Thema Venture Capital. Im Vergleich zu den USA hinkt Europa auch hier deutlich hinterher. Die USA haben den Vorteil, dass ihre Risikokapitalbranche viel gewachsener ist, die Amerikaner generell risikofreudiger sind und dank vieler institutioneller Investoren ganz anderem Summen in diese Asset-Klasse fließen. Europa nutzt hier seine Potenziale nicht aus. Es könnten europaweit deutlich mehr Anreize geschaffen werden, um das Wagniskapitalsegment zu stärken. In Großbritannien oder Frankreich sieht es etwas besser aus als in Deutschland.
Risikokapital in jungen Firmen hat im Gegensatz zu manch anderem Bereich in der Finanzbranche eine unumstrittene volkswirtschaftliche Funktion. Dabei geht es nicht um Kleinanleger, sondern professionelle Investoren und Vermögensverwalter die derzeit ihr Geld oft lieber in Asset-Klassen anlegen mit weniger volkswirtschaftlichem Nutzen. Zudem braucht es mehr Börsengänge von Tech-Firmen in Kontinentaleuropa.
Statt über Deindustrialisierung zu jammern, sollte man in die Zukunft denken und die vorhandenen Potenziale in Europa endlich besser nutzen.
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