Wie häufig und wann sich Vertreter des Zahlungsdienstleisters Wirecard in den vergangenen Jahren mit führenden Politikern und Spitzenbeamten auf der Bundesebene trafen, ist inzwischen weitgehend dokumentiert – inklusive der Strippenzieher, die bei der Anbahnung behilflich waren. Bekannt ist auch, dass sich der frühere Dax-Konzern bei den Bundesländern um einen Großauftrag als staatlich lizenzierter Zahlungsabwickler für Online-Glücksspielangebote bemüht hat, wie Capital im August enthüllte. Doch so gut wie nichts weiß man bis heute über die Kontakte des Unternehmens aus Aschheim bei München und seiner Topmanager in die bayerische Staatsregierung.
Dabei lohnt sich auch hier ein genauer Blick auf die Verbindungen zwischen Politik und Konzern. Zwar gab es nach Angaben der Staatsregierung seit 2013 insgesamt nur vier direkte Kontakte von Wirecard-Vertretern mit bayerischen Ministern, wie aus einer Antwort an den FDP-Landtagsabgeordneten Helmut Kaltenhauser hervor geht. Die Antwort liegt Capital vor. Darunter war allerdings auch ein Treffen von zwei Spitzenvertretern von Wirecard mit dem Leiter der Staatskanzlei, Florian Herrmann, im November 2019 in der Regierungszentrale – unter Begleitumständen, die Fragen aufwerfen.
Wie das bayerische Innenministerium in seiner Antwort ausführt, traf sich der Staatskanzleichef von Ministerpräsident Markus Söder (CSU) am 20. November mit dem damaligen Wirecard-Finanzvorstand Alexander von Knoop und dessen Vorgänger Burkhard Ley. Ley diente seit seinem Ausscheiden aus dem Vorstand als Sonderbeauftragter des Konzerns und war auch federführend für die politischen Kontakte in Bund und Ländern zuständig. Seit Juli sitzt Ley in Untersuchungshaft, weil ihm die Staatsanwaltschaft München I eine Beteiligung an dem jahrelangen Betrugssystem bei Wirecard in seiner Zeit als Finanzvorstand vorwirft. Ley bestreitet alle Vorwürfe.
Bemerkenswert an dem Termin ist bereits, wie er zustande kam: Laut Staatsregierung wurde das Treffen für Wirecard von dem früheren bayerischen Landespolizeipräsidenten Waldemar Kindler „initiiert“. Auch an dem Gespräch selbst habe der frühere leitende Sicherheitsbeamte teilgenommen. Thema: ein „allgemeines Kennenlernen“. Von Knoop und Ley hätten „die Wirecard AG als neues Dax-Unternehmen vorgestellt“, schreibt die Staatsregierung. „Konkrete Anliegen wurden nicht vorgebracht.“
Nun war Wirecard im November bereits seit mehr als einem Jahr Mitglied des wichtigsten deutschen Börsenindex. Zudem war das Aschheimer Unternehmen ja bereits vor dem Aufstieg in den Dax im September 2018 auch in Bayern kein Unbekannter. Darüber hinaus stellt sich die Frage, warum just ein früherer Sicherheitsbeamter, der nach einer Zeit als Vizepräsident des LKA ins bayerische Innenministerium wechselte und zwischen 2007 und 2013 als oberster Polizist Bayerns amtierte, ein Gespräch organisiert und begleitet, in dem sich der Konzern dem Chef der Regierungszentrale vorstellt.
Experte für organisierte Kriminalität
Kindler gilt als ausgewiesener Experte für organisiertes Verbrechen, jahrelang leitete er die Bund-Länder-Arbeitsgruppe Polizei. Zudem verfügt er auch über gute Drähte zu internationalen Sicherheitsbehörden. Im Jahr 2012 referierte Kindler etwa auf einer Fachtagung über organisierte Kriminalität und Korruption in Moskau. Nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst im Jahr darauf beriet er das Bundesinnenministerium bei der „polizeilichen Aufbauhilfe in Nordafrika“, wie aus Bundestagsdokumenten hervorgeht. Zudem begleitete Kindler Polizeireformen in Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Baden-Württemberg – und war offensichtlich für Wirecard tätig.
Die Rolle von Kindler werfe zwei Fragen auf, sagte der Abgeordnete Kaltenhauser gegenüber Capital: „Um welche Themen ging es wirklich, und warum nimmt ein früherer Landespolizeipräsident an einem Gespräch mit einem Unternehmen teil, dessen Geschäftszweck die Abwicklung von Finanzdienstleistungen ist?“ Der Sprecher für Haushalt und Finanzen der FDP-Landtagsfraktion verwies daraus, dass zum Zeitpunkt des Gesprächs mit dem Chef der Staatskanzlei im November 2019 schwere Vorwürfe gegen Wirecard im Raum standen. So hatte die „Financial Times“ im Laufe des vergangenen Jahres Bilanztricks in der Wirecard-Filiale in Singapur sowie Ungereimtheiten bei dem angeblichen ertragsstarken Drittparteien-Geschäft in Asien enthüllt. Im Oktober 2019 hatte deshalb der Aufsichtsrat von Wirecard auf Druck von Investoren eine Sonderprüfung bei der Prüffirma KPMG beauftragt. Es sei „kaum vorstellbar“, dass in diesem zeitlichen Umfeld die öffentlichen Vorwürfe nicht ein wesentlicher Teil des Gesprächs mit Söders Staatskanzleichef gewesen sein sollen, sagte Kaltenhauser.
Auf Nachfrage von Capital zu den Hintergründen und Themen des Gesprächs bekräftigte eine Sprecherin der Staatskanzlei dagegen, dass es sich bei dem Termin um ein „reines Kennenlerngespräch ohne konkrete Anliegen“ gehandelt habe. Kindler habe das Gespräch vermittelt und deshalb auch daran teilgenommen. „Über die Verbindungen von Herrn Kindler zu Wirecard war der Staatsregierung nichts bekannt“, betonte die Sprecherin. Auch sei Ministerpräsident Söder über den Termin nicht informiert worden.
Auffällig ist allerdings eine zeitliche Nähe zu einem anderen Treffen einige Wochen zuvor, das von Knoop und Ley in einer anderen Regierungszentrale geführt hatten – ebenfalls vermittelt von einem ehemaligen führenden Sicherheitsbeamten. Am 11. September 2019 trafen die beiden Wirecard-Spitzenvertreter im Berliner Kanzleramt den Wirtschaftsberater von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Lars-Hendrik Röller. Den Termin organisierte und begleitete Klaus-Dieter Fritsche, der in seiner Laufbahn Vizechef des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Sicherheitsstaatssekretär im Bundesinnenministerium und zuletzt bis Anfang 2018 Geheimdienstbeauftragter im Kanzleramt war.
Auch CSU-Mitglied Fritsche ist nach seiner Pensionierung als Berater aktiv geworden – etwa für das FPÖ-regierte österreichische Innenministerium bei der Reform des Inlandsgeheimdienstes BVT. Kontakte ins BVT, aber auch nach Nordafrika pflegte wiederum auch der frühere Wirecard-Vorstand Jan Marsalek, der kurz vor der Pleite des Konzerns untergetaucht ist. Gerüchten zufolge soll sich Marsalek heute unter der Obhut russischer Geheimdienste in der Nähe von Moskau aufhalten.
Kontakte auch mit anderen Ministern
Die Initiierung und Begleitung des Gesprächs bei dem bayerischen Staatskanzleichef und Bundesratsminister Herrmann durch den Ex-Polizeipräsidenten Kindler wirft auch deshalb Fragen auf, weil Wirecard auch auf anderen Wegen über Kontakte in die Staatsregierung verfügte. Zudem hätte der Konzern bei Bedarf auch auf die Hilfe von Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg zurückgreifen können, der mit seiner Beratungsfirma Spitzberg Partners für Wirecard zu jener Zeit bei anderem Projekten als Türöffner in die Politik behilflich war. Als früherer Generalsekretär der CSU ist Guttenberg bestens vernetzt in der Regierungspartei und der bayerischen Politik.
Tatsächlich gab es zwischen einigen bayerischen Staatsministerien und dem Aschheimer Zahlungsabwickler auch einen direkten Austausch, wie die Aufstellung des Innenministeriums zeigt. Demnach reiste im Jahr 2016 der Chef von Wirecard Central Eastern Europe als Teil einer Wirtschaftsdelegation mit der damaligen Wirtschaftsministerin Ilse Aigner (CSU) nach Polen. Im Juli 2017 begleiteten ein Manager und eine Managerin der brasilianischen Wirecard-Tochter die damalige Europaministerin Beate Merk (CSU) bei einzelnen Terminen im Rahmen einer Reise nach Sao Paulo. Generell sei aber eine „Unterstützung der Expansion der Wirecard AG im Ausland“ durch die Staatsregierung nicht erfolgt, betonte das Innenministerium.
Bereits im Juli 2014 hatte zudem Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) den damaligen Wirecard-Finanzvorstand Ley zu einem Gespräch empfangen. Türöffner damals laut Staatsregierung: der ehemalige schleswig-holsteinische Ministerpräsident Peter-Harry Carstensen (CDU). Bei dem Gespräch mit Ley und einem Münchner Anwalt, der auch für viele Glücksspielanbieter tätig ist, sei es um das Thema Glücksspiel und Suchtprävention gegangen, heißt es in der Antwort der Staatsregierung. Einen weiteren Berührungspunkt mit dem Wirtschaftsministerium gab es dann in diesem Jahr, als Wirecard von sich aus anbot, im Rahmen eines „Sponsorings“ kostenlos die Digitalisierung von Anträgen für Corona-Soforthilfen zu übernehmen. Zudem wurde die Ehefrau des langjährigen Wirecard-Chefs Markus Braun, die zeitweise als Marketingchefin des Unternehmens tätig war, vom Wirtschaftsministerium 2014 in die Jury eines Digitalpreises berufen.
Ein anderes Ministerium dagegen meldete auf die Anfrage des Abgeordneten Kaltenhauser keinen einzigen Kontakt mit Spitzenvertretern des Zahlungsdienstleisters: das Finanzressort, das von 2011 bis 2018 von dem heutigen Ministerpräsidenten und potenziellen Unions-Kanzlerkandidaten Söder geführt wurde. Es falle schwer zu glauben, dass das bayerische Finanzministerium über Jahre hinweg keinerlei Kontakt mit Wirecard gehabt haben will, weder unter Söder noch unter dem heutigen Minister Albert Füracker (CSU), sagte Kaltenhauser. „Gerade in dem als besonders unternehmensfreundlich geltenden Bayern scheint es doch ungewöhnlich, dass es weder Gesprächsinteresse noch Gesprächsbedarf mit dem Finanzunternehmen Wirecard gegeben haben soll.“
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