Holger Schmieding ist Chefvolkswirt der Berenberg Bank. Er schreibt hier regelmäßig über makroökonomische Themen.
Deutschlands Joschka Fischer hat drei Jahrzehnte gebraucht für seinen langen Lauf vom gewalttätigen Sponti zum verantwortungsbewussten Bundesminister. Griechenlands neuer Premierminister Alexis Tsipras hat für einen ähnlichen Wandel keine drei Wochen Zeit. Andernfalls droht seinem Land der Abgrund.
Ganz unrecht hat der neue Mann in Athen ja nicht: Auch Europa hat Fehler gemacht. Unter dem Einfluss der Hardliner aus dem Internationalen Währungsfonds waren die ersten Hilfsprogramme für Griechenland zu sehr darauf ausgerichtet, mit einem dramatischen Anziehen der Steuerschraube das gigantische Haushaltsdefizit kurzfristig auszugleichen, statt durch Reformen nach dem Vorbild der deutschen Agenda 2010 die langfristigen Wachstumskräfte und somit auch die Steuerbasis zu stärken.
Das Ergebnis einer beispiellos harten Fiskalpolitik in einer wenig anpassungsfähigen Wirtschaft war ein ebenfalls nahezu beispielloser Einbruch der Wirtschaftsleitung um 25 Prozent.
Aber das ist Geschichte. Selbst der IWF ist in Grenzen lernfähig. Bereits in den letzten beiden Jahren hat der Fiskaldruck in Griechenland nachgelassen. Stattdessen haben die schließlich doch umgesetzten Strukturreformen einen neuen Aufschwung angestoßen. In den ersten drei Quartalen des Jahres 2014, für die wir bereits Daten haben, legte die griechische Wirtschaftsleistung mit einer Jahresrate von 2,5 Prozent zu. Der Aufschwung hat auch den Arbeitsmarkt erreicht mit einem Anstieg der Beschäftigten im dritten Quartal um 1,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Die Rücknahme der Reformen ist das eigentliche Problem
Bis November 2014 war Griechenland alles in allem auf dem richtigen Weg, auch wenn die alte Regierung in einigen Punkten ihre eigene Klientel zu sehr geschont und nicht alle vernünftigen Reformen voll umgesetzt hatte. Mit dem steigenden Risiko vorgezogener Neuwahlen und schließlich dem Sieg einer Koalition linker und rechter Radikaler hat sich der Ausblick aber wieder verdüstert. Kapitalflucht, der Abfluss von Bankeinlagen und ein Einbruch des Geschäftsklimas deuten eher auf eine neue Rezession hin als auf ein sich kräftigendes Wachstum, wie es sich noch bis Anfang Dezember abzeichnete.
Leider wird die Debatte in Athen von zwei großen Illusionen geprägt. Die neue Regierung scheint - ebenso wie viele Beobachter von außen – zu glauben, dass es vor allem um die griechische Schuldenlast gehe. Das ist falsch. Europa hat schon viel getan, um die griechische Staatsschuld tragbar zu machen. Dank der Vorzugszinsen aus Europa liegt der griechische Zinsdienst mit vier Prozent der Wirtschaftsleistung im Mittelfeld vergleichbarer Länder in Europa. Darüber hinaus hat Europa schon vor Jahren signalisiert, dass es die Zinsen der Hilfskredite nochmals senken und die Tilgungsfristen verlängern könnte, sofern Griechenland das vereinbarte Reformprogramm umsetzt.
Hier liegt das eigentliche Problem: Die neue griechische Regierung hat ihren Wählern versprochen, einen erheblich Teil der schmerzhaften Reformen rückgängig zu machen, mit denen Griechenland in den letzten fünf Jahren seine Wettbewerbsfähigkeit spürbar gesteigert hat. Die griechischen Vorschläge, trotz einer Jugendarbeitslosigkeit von 50 Prozent den Mindestlohn für Jugendliche um 30 Prozent anzuheben, die Macht der wenig konsensfähigen Gewerkschaften zu stärken und den Kündigungsschutz wieder auszubauen, kommen einer Kampfansage an den gesunden Menschenverstand gleich. Wieso sollte Portugal dafür stimmen, dass sich Griechenland mit einem auch vom portugiesischen Steuerzahler garantierten Zusatzkredit einen weit höheren Mindestlohn leistet, als er in Lissabon gezahlt wird?
Durch eine Rolle rückwärts bei Arbeitsmarkt- und anderen Strukturreformen würde Griechenland künftige Wachstumschancen verlieren. Darauf können sich seine Kreditgeber bei allem guten Willen nicht einlassen.
Athen spielt nicht mehr die Hauptrolle im Euro-Drama
Genau anders herum wird ein Schuh daraus: Griechenland muss seine Wirtschaftskraft weiter durch angebotsorientierte Reformen stärken. Wenn es dies tut, kann es seine Schulden gut bedienen. Und dann fiele es auch den Kreditgebern leichter, das angesichts der aktuellen Turbulenzen wohl unausweichlich gewordene Verfehlen der griechischen Haushaltsziele für 2015 hinzunehmen.
Zudem scheint die Regierung in Athen zu glauben, sie spiele die Hauptrolle im gegenwärtigen Drama in Europa. Auch das ist nicht ganz falsch: Für Griechenland hängt sehr viel davon ab, ob es die europäischen Regeln anerkennt oder sich im Trotz aus dem Euro herauskatapultiert. Aber mit dem Kaufprogramm der europäischen Zentralbank für Staatsanleihen sowie mit der Bankenunion und dem Rettungsfonds ESM hat sich Europa hinreichend gegen Ansteckungsgefahren abgesichert. Das Risiko liegt überwiegend auf griechischer Seite.
Für Frankfurt und Berlin, für Helsinki und Den Haag geht es beim Streit mit den Radikalpopulisten aus Athen weniger um Griechenland. Das große Projekt Europas ist es, seine Wettbewerbsfähigkeit im Zeitalter der Globalisierung zu stärken. Deutschland und Schweden, Estland und die Slowakei haben dies bereits geschafft, um nur einige zu nennen. Spanien und Portugal sind auf dem besten Wege. Italien hat die Wende mit seiner im Herbst vom Parlament verabschiedeten Arbeitsmarktreform zumindest eingeleitet, Frankreich kommt allerdings bisher über Trippelschritte nicht hinaus.
Europa wird die teuren Wahlgeschenke nicht bezahlen
Die oberste Priorität für Europa ist es, Spanien auf dem Reformpfad zu halten sowie Italien und vor allem Frankreich zu Reformen zu ermuntern. Einem lautstarken Populisten aus dem viel kleineren Griechenland eine Reformrolle rückwärts zu erlauben und ihn dafür auch noch mit zusätzlichem Geld zu belohnen, gehört nicht zu diesem Plan. Denn das würde nicht gerade den Reformwillen stärken in den europäischen Ländern, auf die es weit mehr ankommt als auf Griechenland.
Ich erwarte, dass Europa selbst Alexis Tsipras einige gesichtswahrende Kompromisse anbieten wird. Man muss die Kontrolleure künftig ja nicht Troika nennen. Und einige Änderungen im Programm, mit denen beispielsweise die von der früheren Regierung übermäßig geschonten Interessengruppen mehr belastet werden zugunsten der Syriza-Wähler, sind sicherlich möglich.
Politik ist die Kunst des Kompromisses; Diplomatie kann wohlklingende Worte finden. Aber letztlich wird die griechische Regierung auf den Boden der Tatsachen zurückkehren müssen: Europa wird helfen. Aber es wird die leichtsinnig versprochenen Wahlgeschenke nicht bezahlen. Nur weitere Strukturreformen können Griechenland voranbringen.
Ich bin optimistisch: letztlich wird Tsipras sich lieber zähmen lassen, als sein Land zu einer Art Venezuela ohne Öl herabzustufen. Aber das Risiko, dass Tsipras die für Griechenland fatale Wahl des Euro-Ausstiegs trifft, liegt wohl bei 35 Prozent. Und laut könnte es auf jeden Fall werden.