Alle Parteien sprechen zwar am liebsten über den Fortschritt und die Zukunft, was sie aber im Innersten wirklich bewegt, lässt sich besser verstehen, wenn man sich ihre Vergangenheit anschaut. Dieser Grundsatz gilt unabhängig von jeder Couleur.
Das große Widerstreben der Grünen gegen längere Laufzeiten für die letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland, egal wie ernst die Energiekrise gerade ist, wird nie verstehen, wer ihren 40-jährigen Kampf gegen die kommerzielle Nutzung der Atomspaltung ignoriert. Und große Teile der letzten 19 Jahre SPD-Politik lassen sich nicht erklären ohne jene Agenda 2010, die ein Kanzler Gerhard Schröder im März 2003 im Bundestag präsentierte – ohne zuvor größere Rücksprache mit seiner Partei gehalten zu haben. Parteiprogramme sind, so traurig das ist, vor allem Traumabewältigung.
Und so muss man auch den aktuellen FDP-Chef und Finanzminister Christian Lindner einordnen, wenn man sich jetzt fragt, warum er sich trotz immer neuer Krisen, Eskalationen und Hilfspakete so entschieden an die Schuldenbremse im Grundgesetz klammert.
Runter von den hohen Corona-Schulden
Das große Trauma der Liberalen beginnt mit dem strahlenden Wahlsieg von 2009, als der damalige FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle nach jahrelangen Steuersenkungskampagnen für sich befand, im Außenministerium besser aufgehoben zu sein als im Finanzressort. Es folgten Skandale um Steuererleichterungen für die Hotelbranche, Vorwürfe spätrömischer Dekadenz, ein etwas übermütiges Herumgeeiere in der Euro-Krise und 2013 schließlich der demütigende Auszug aus dem Bundestag. Schon damals dabei, zuerst als Westerwelles Generalsekretär und später als Hinterbänkler, der gar nicht wusste wohin mit seinem Talent: Christian Lindner.
So erklärt sich, warum Lindner im vergangenen Jahr so vehement darauf bestand, in der neuen Regierungskoalition auf jeden Fall das Amt des Finanzministers anzustreben. Westerwelles Fehler wollte er partout vermeiden. Und weil er wusste, dass in der Koalition mit SPD und Grünen keine Steuerentlastungen durchzusetzen sind, verlegte er sich früh auf die Rolle des obersten Kassenwarts: Macht Ihr mal Eure Energiewende und Euren Mindestlohn, ich sehe zu, dass das Geld beisammenbleibt. Lindners wichtigstes Ziel: Spätestens im kommenden Jahr 2023 die Schuldenbremse im Grundgesetz wieder einzuhalten – runter von den hohen Corona-Schulden, zurück zu den soliden Finanzen, ist seither seine oberste Maxime.
Lindners Kalkül war richtig, aber er hatte seine Rechnung ohne Russlands Präsidenten Wladimir Putin gemacht. Seit dem 24. Februar 2022, also in den letzten sieben Monaten, ist auch im Bundeshaushalt einiges passiert: Zeitenwende, 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr, Entlastungspaket I, Entlastungspaket II, Ergänzungshaushalt zum Bundeshaushalt, Entlastungspaket III, alles in allem etwa 140 Mrd. Euro an neuen Krediten, zwischendurch noch eine Gasumlage für 35 Mrd. Euro (die nun doch nicht mehr gebraucht wird), dann die Verstaatlichung des Energiekonzerns Uniper für 30 Milliarden über die staatliche Förderbank KfW, und jetzt der große Abwehrschirm. Nicht militärisch, sondern auch der finanziell – wie sollte es auch anders sein in Deutschland.
Es geht um 200 Mrd. Euro an neuen Krediten und als zusätzliches Budget, um damit die Strom- und Gaspreise zu senken. Eine gewaltige Summe, die nur über neue Schulden zu finanzieren sein wird. Seit Monaten schon war so ein Instrument im Gespräch, angesichts der hohen Preise an den Energiemärkten war es nicht nur unausweichlich, sondern auch überfällig: Viel Verunsicherung bei den Endkunden der Gasversorger, aber auch viel Resignation und Frust bei Unternehmen, die schon ihre Produktion zurückgefahren haben, hätte sich wohl vermeiden lassen, wenn sich die Regierung zu diesem großen Schritt zwei oder drei Monate früher durchgerungen hätte.
Doch Lindner sperrte sich lang. Er ahnte, dass so eine Maßnahme teuer werden würde und fürchtete, zu Recht, um seinen Kurs in der Haushaltpolitik. Nun, Lindner hat es geschafft, muss man zugeben, die Schuldenbremse wird er weiterhin einhalten. Allerdings etabliert sich jetzt ein Muster in der Haushaltspolitik, das – im Vergleich zu einem offenen Aussetzen der Schuldenbremse – nicht minder riskant ist: Wann immer ein Problem auftaucht, das sich aus dem regulären Haushalt mit der Schuldenbremse nicht mehr finanzieren lässt, schafft Lindner einen kleinen Nebenhaushalt – hier ein Töpfchen mit ein paar Milliarden, dort ein Töpfchen mit ein paar Milliarden.
Nebenstellen und Schattenhaushalte im Bundesetat
So machte er es schon gleich zu Beginn seiner Amtszeit mit dem Energie- und Klimafonds (EKF), in den Lindner 60 Mrd. Euro an bisher nicht genutzten Corona-Krediten für die Finanzierung der Energiewende in den kommenden Jahren verschob. Gegen das Manöver läuft noch eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht. Um die Soldaten der Bundeswehr endlich wieder mit modernen Waffen und warmer Unterwäsche auszustatten, schuf er im Frühjahr eilig ein Sondervermögen von 100 Mrd. Euro für die Bundeswehr. Um Unternehmen in der Energiekrise zu stützen und als Staat zusätzliches Erdgas auf den Weltmärkten einzukaufen, richtete er etliche Sonderprogramme bei der Staatsbank KfW ein. Und nun also 200 Mrd. Euro an Extrakrediten für die Gas- und Strompreise, diesmal abgewickelt über den in der Corona-Pandemie geschaffenen Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF).
Alles Nebenstellen und Schattenhaushalte im Bundesetat, die sich innerhalb von nicht mal zwölf Monaten auf annähernd 400 Mrd. Euro summieren – bei einem regulären Bundeshaushalt von 495 Mrd. Euro in diesem und geplant etwa 445 Mrd. Euro im nächsten Jahr. Aber die Schuldenbremse im Grundgesetz, die doch Disziplin und Transparenz in die Staatsfinanzen bringen sollte, wird eingehalten!
Nun kann man so argumentieren wie Lindner dies tut: Alle Sonderetats deckten eben besondere Aufgaben und Probleme ab – die langfristige Transformation der Wirtschaft zur CO2-Neutralität, die überfällige Modernisierung der Bundeswehr, die Unternehmenshilfen in der Gaskrise und jetzt eben noch die Subventionen für Gas- und Strompreise. All das habe nichts mit den regulären Ausgaben des Bundes zu tun, für die eben dann bald wieder die Schuldenbremse greife. Zudem wehre er so andere Ausgabenwünsche ab und sende ein Zeichen der Stabilität an die Finanzmärkte, sagt Lindner.
Aber solche Begründungen sind doch ziemlich durchsichtig. Denn in Wahrheit definiert Lindner eben jede größere unvorhergesehene Aufgabe oder Krise nun zu einer Ausnahme, die nicht mehr im Rahmen des regulären Etats gestemmt werden muss. Statt die Schuldenbremse einzuhalten, liefert er jeden zweiten Monat eine neue Vorlage, wie man sie umgeht und aushöhlt. Das werden auch die Finanzmärkte, um die sich Lindner ja so sorgt, durchschauen – aber die gute Nachricht ist: Angesichts des niedrigen deutschen Schuldenstands ist ihnen das – anders als offensichtlich in Großbritannien – herzlich egal. Die Schuldenbremse steht zwar noch im Grundgesetz, sie wird irgendwie im nächsten Jahr formal auch eingehalten – aber eigentlich sagt sie nichts mehr aus über die Verschuldungspolitik des Bundes und die Solidität der deutschen Staatsfinanzen.
Am Ende gilt der alte Satz von Helmut Kohl: „Entscheidend ist, was hinten rauskommt.“ Hauptsache also, Deutschland ist in dieser Krise, von der keiner sagen kann, welche Wendungen sie in den nächsten Wochen und Monaten noch nehmen wird, handlungsfähig. Ja, es geht, wie Lindner gestern selbst zutreffend feststellte, in der Auseinandersetzung mit Russland auch um die finanzielle Schlagkraft des Landes. Und nicht um seine persönliche Glaubwürdigkeit. Darüber wird man in drei Jahren befinden können – gut möglich, dass den meisten Wählern dann das Schicksal der Schuldenbremse herzlich egal sein wird.