Es sind Zahlen, die manchem deutschen Arbeitnehmer schwindelig werden lassen: Um mehr als 60 Prozent soll der Lohn von Hafenarbeitern an der US-Ostküste laut dem jüngsten Tarifabschluss steigen. Beim Flugzeughersteller Boeing haben Gewerkschaftsmitarbeiter kürzlich ein Angebot von 25 Prozent mehr Lohn zurückgewiesen und fordern ein Plus von 40 Prozent. Im vergangenen Jahr rangen die Gewerkschaften den großen US-Autokonzernen Gehaltssteigerungen von bis zu 33 Prozent mehr ab. Weltweit für Aufsehen sorgte eine Vereinbarung beim Paketdienst UPS im Sommer 2023, im Rahmen dessen das Jahresgehalt von Fahrern auf bis zu 170.000 Dollar (etwa 156.000 Euro) stieg.
Auch wenn man berücksichtigt, dass Bruttogehaltszahlen in den USA teils Bestandteile enthalten, die in Deutschland zu den vom Arbeitgeber zu tragenden Lohnnebenkosten zählen, und die Lebenshaltungskosten in vielen Teilen der USA deutlich höher sind: Das sind Einkommenssphären, die für Tarifbeschäftigte in Deutschland nahezu unerreichbar sind. Zum Vergleich: Ein Fahrer eines großen Paketdienstes in Deutschland kann laut dem Jobportal Stepstone mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von rund 35.000 Euro rechnen. Und auch Steigerungsraten wie die bei den Arbeitern der US-Häfen oder der amerikanischen Autobauer sind in Deutschland kaum vorstellbar. So fordert die IG Metall in der aktuellen Tarifrunde sieben Prozent mehr Lohn und Gehalt. Verdi möchte im Öffentlichen Dienst acht Prozent mehr durchsetzen. Wie lassen sich diese Unterschiede erklären?
Zunächst sind die in Verhandlungen oder bei Tarifabschlüssen genannten Prozentzahlen oft schwer miteinander vergleichbar, da sie sich auf ganz unterschiedliche Zeiträume beziehen. Das Lohnplus der US-Hafenarbeiter von gut 60 Prozent soll sich beispielsweise auf sechs Jahre verteilen. Das entspräche bei einer kontinuierlichen Steigerung einem Zuwachs von etwas mehr als acht Prozent im Jahr. Die Laufzeit der Vereinbarung zwischen der Gewerkschaft der Vereinigten Autoarbeiter (UAW) und Ford mit einer Lohnsteigerung von mehr als 30 Prozent beträgt viereinhalb Jahre.
Höheres Gehaltsniveau in den USA
Zudem sind solche stattlichen Abschlüsse für die Lohnentwicklung in den USA keineswegs repräsentativ. Als Begründung für ihre hohen Forderungen verwiesen die Gewerkschaften bei den Verhandlungen auf zuvor jahrelang stagnierende oder etwa im Fall von Boeing sogar gekürzte Einkommen. Obwohl die meisten Beschäftigten in den USA in den Vorjahren ein Sinken ihrer Kaufkraft hinnehmen mussten, profitieren nur wenige von spektakulären Gehaltssteigerungen. Laut aktuellen Zahlen der US-Regierung stiegen die Entgelte in den vergangenen zwölf Monaten im Durchschnitt um vier Prozent. Nach Abzug der Inflationsrate von zuletzt 2,5 Prozent bleibt eine reale Lohnsteigerung von lediglich 1,5 Prozent.
Vergleicht man diese reale Lohnentwicklung, stehen deutsche Arbeitnehmer sogar etwas besser da. Laut Destatis waren die Entgelte im zweiten Quartal 2024 (das sind die letzten aktuell vorliegenden Zahlen) im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 5,4 Prozent gestiegen, bei einer Inflationsrate von 2,3 Prozent. Real verdienten deutsche Arbeitnehmer im Jahresvergleich also 3,1 Prozent mehr und konnten ihr Gehalt im Durchschnitt stärker steigern als die Amerikaner.
Allerdings liegt das Gehaltsniveau in den USA deutlich höher. So betrug das durchschnittliche Jahresgehalt dort 2023 laut OECD-Zahlen gut 80.000 Dollar (etwa 73.000 Euro) in Deutschland dagegen nur etwas mehr als 48.000 Euro (52.000 Dollar). Nicht berücksichtigt ist in diesen Zahlen allerdings, dass US-Amerikaner im Durchschnitt eine höhere Wochenarbeitszeit und deutlich weniger Urlaub haben als deutsche Arbeitnehmer. Zudem sind die Lebenshaltungskosten in vielen Teilen der USA deutlich höher.
Der Beitrag ist zuerst bei ntv.de erschienen. Das Nachrichtenportal gehört wie Capital zu RTL Deutschland.