Big Tech und die Kapitalmärkte freunden sich immer mehr an. Jüngstes Beispiel hierfür sind Microsoft und die London Stock Exchange (LSEG), die in dieser Woche eine milliardenschwere Allianz schmiedeten – und damit die vierte derartige Allianz binnen eines Jahres bilden. Im November 2021 investierte Google 1 Mrd. Dollar in eine zehnjährige Cloud-Computing-Vereinbarung mit der CME in Chicago. Amazon Web Services (AWS) und die New Yorker Nasdaq schlossen im selben Monat eine ähnliche Vereinbarung, und letzte Woche schloss die Nasdaq die Umstellung einer seiner US-Optionsbörsen auf AWS ab. Bleibt die Frage: Warum?
Für die Börsen liegen die Vorteile auf der Hand. „Wir entwickeln gemeinsam Produkte, wir gehen gemeinsam auf den Markt“, sagte LSEG-CEO David Schwimmer. „Hier geht es um unsere Daten- und Analysefähigkeiten.“ Der US-Softwarekonzern Microsoft wird LSEG bei der Umstellung seiner Infrastruktur auf Microsofts Cloud unterstützen, die dem Unternehmen eine höhere Rechenleistung und eine schnellere und flexiblere Datenaufbereitung ermöglicht.
„Die Umstellung auf die Cloud ist sehr wichtig, da sie sich für die nächste Generation von Rechenkapazitäten rüsten müssen“, sagt die Chefin der Beratungsfirma Market Structure Partners Niki Beattie,. Ohne derartige Kooperationen fehle den Börsen das Tempo.
Das Daten- und Analysegeschäft von LSEG ist der Dreh- und Angelpunkt des Unternehmens und erwirtschaftete in der ersten Hälfte des Jahres 2022 einen Umsatz von 2,4 Mrd. Pfund. Die Kunden des Unternehmens, von Fondsmanagern und Analysten bis hin zu Händlern und Investmentbankern, nutzen die Daten, um ihre Entscheidungen zu validieren. LSEG verfügt nach eigenen Angaben über Daten zu Unternehmen, die 99 Prozent der weltweiten Marktkapitalisierung ausmachen, sowie über Kurs- und Wirtschaftsdaten aus 165 Ländern.
Bloomberg-Killer?
„Microsoft verfügt über eine ausgeklügelte KI und Algorithmen, sie haben einzigartige Daten und die Infrastruktur, um daraus gute Produkte zu entwickeln. Es ist realistisch, von einem Umsatzwachstum auszugehen“, sagt ein Top-20-Investor von LSEG.
Könnte durch die Partnerschaft auch ein „Bloomberg-Killer“ entstehen? Mehr als 40 Jahre, nachdem Michael Bloomberg sein Datengeschäft gegründet hat, ist sein gleichnamiges Terminal auf dem Börsenparkett noch immer allgegenwärtig. Das konkurrierende Eikon-Produkt, das die LSEG durch die 27 Mrd. Dollar teure Übernahme von Refinitiv erwarb, ist weniger beliebt.
Eine beliebte Funktion des Bloomberg-Terminals ist seine Messaging-App. Microsoft und die LSEG wollen eine neue, einheitliche Chat- und Datenplattform schaffen, indem sie das Messaging-System „Teams“ von Microsoft mit der Analytik der Börse kombinieren.
„Die Leute nutzen Bloomberg in erster Linie wegen der Chat-Funktion und der Schaffung dieses Community-Ökosystems. Das ist ein wichtiger Bestandteil der institutionellen Finanzmärkte“, sagt Ben Quinlan von der Beratungsfirma Quinlan and Associates. Er fügt jedoch hinzu, dass die Bloomberg-Kunden sehr treu seien und es seit langem schwierig sei, ihnen Marktanteile abzunehmen.
Eine der LSEG nahestehende Person sagt, es wäre falsch, dies als die nächste Phase des Endkampfes zu betrachten. „Sicherlich wird Microsoft die Eikon-Benutzeroberfläche verbessern, aber das ist nicht das große Ding. Dieser Krieg wird nie gewonnen werden“, sagt die Person und merkt an, dass Eikon einen relativ kleinen Teil des Umsatzes von Refinitiv ausmache, etwa 1 Mrd. Dollar.
Terminalverkäufe drohen einzubrechen
Stattdessen herrsche innerhalb der LSEG sogar die Ansicht, dass die Terminalverkäufe tendenziell zurückgehen würden – einfach, weil es weniger menschliche Händler gebe. Der Kampf der Zukunft sei das „Data Piping“ über die Cloud, das Einspeisen von Daten in die Computerprogramme, die den Handel durchführen – und das Einspeisen von Daten in maßgeschneiderte Systeme, die die Banken für sich selbst entwickeln.
Hier hilft Microsoft ein Produkt, das es bereits seit den frühen 1980er-Jahren gibt: die Tabellenkalkulationsprogramm Excel. Durch die Integration der Finanzdaten von LSEG in Excel können die Unternehmen Algorithmen einsetzen, um Analysten bei der Erstellung von Finanzmodellen, Diagrammen und Präsentationen zu unterstützen – alles an einem Ort innerhalb von Microsoft Office.
„Es handelt sich um ein ziemlich ehrgeiziges Paket von Vorschlägen“, sagt Ian White, Analyst bei Autonomous Research. Und er fügt hinzu, dass „damit ein wettbewerbsfähiges, besser integriertes Technologieangebot geschaffen wird, das einige der Unzulänglichkeiten beseitigt“.
Was ist also für die Technologiekonzerne drin? Da wäre zunächst der finanzielle Aspekt. Microsoft erwartet durch die zehnjährige Partnerschaft Einnahmen in Höhe von 5 Mrd. Dollar, wobei ein Mindestbetrag von 2,8 Mrd. Dollar von LSEG garantiert wird. Außerdem erwirbt Microsoft einen Vier-Prozent-Anteil an LSEG und nimmt einen Sitz im Aufsichtsrat ein.
Die Cloud-Anbieter hoffen durch die Börsen-Deals auch auf Geschäfte mit den Tausenden verbundenen Finanzunternehmen. Die Nasdaq beispielsweise hat viele Kunden, die sich für Handel, Clearing und Abwicklung auf sie verlassen, was bedeutet, dass auch sie auf AWS angewiesen sein werden. „Es wird für uns Möglichkeiten geben, neue Beziehungen zu knüpfen“, sagt Scott Mullins, Managing Director of Worldwide Financial Services bei AWS. „Es gibt einige Märkte, in denen wir noch keine Infrastruktur haben, und wir werden die Möglichkeit haben, zu expandieren.“
Regulierungsbehörden werden wohl kritisch auf Deals schauen
Beattie von MSP meint: „Die Cloud-Anbieter wollen auf jeden Fall mehr über die Finanzmärkte erfahren. Die Gegenleistung besteht darin, dass sie einen Mindestumsatz für ihre Plattformen festlegen können, wodurch künftige Einnahmen garantiert werden. Für Microsoft war es wahrscheinlich entscheidend, diese Art von Deal zu bekommen, wenn die Konkurrenten schon etwas in der Tasche hatten.“
Die Partnerschaften sind nicht exklusiv – nach Meinung von Analysten, um nicht ins Fadenkreuz der Regulierungsbehörden zu geraten. Es wird erwartet, dass die Gesetzgeber das schleichende Interesse von Big Tech an den globalen Kapitalmärkten genau beobachten werden, zumal eine Handvoll Cloud-Computing-Unternehmen den Großteil des Marktes beherrschen. Nach Angaben der Synergy Research Group verfügen die Cloud Computing-Dienste von Amazon, Microsoft und Google im dritten Quartal dieses Jahres weltweit einen gemeinsamen Marktanteil von 66 Prozent.
Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich warnte im Juli, dass die zunehmende Abhängigkeit der Finanzinstitute von Cloud-Computing-Software „systemische Auswirkungen auf das Finanzsystem“ haben könnte. „Wenn die Cloud zum Vehikel für Ihre gesamte IT wird, ist das eine qualitativ andere Art von Herausforderung“, sagt der Analyst Lee Sustar vom Beratungsunternehmen Forrester Research.
Britische Unternehmen, die ihre Daten an Cloud-Anbieter auslagern, müssen die Vorschriften der Financial Conduct Authority einhalten. Dazu gehört ein Plan B, falls die Cloud-Computing-Firma einmal ausfällt, zum Beispiel durch einen Hacker-Angriff.
Endstufe: Übernahme?
Einige sind bereits besorgt, dass die wachsende Präsenz der US-Tech-Unternehmen zu einer größeren Herausforderung werden könnte, bis hin zur Übernahme der Börsen selbst. Im Moment wollen sie mit dem Verkauf der Cloud-Infrastruktur Geld verdienen, „also nicht mit ihren Kunden konkurrieren, aber langfristig werden sie sich das Wissen zunutze machen wollen“ und könnten daher expandieren, so Beattie.
Im Oktober begann die britische Finanzaufsichtsbehörde (Financial Conduct Authority) damit, Meinungen zur Rolle von Big Tech im Finanzwesen einzuholen. Sheldon Mills, Exekutivdirektor für Verbraucher und Wettbewerb bei der FCA, bewertet die Bedrohungen für den Wettbewerb. Sie hält sich in öffentlichen Statements bislang zurück und sagt nur: „Dies ist von entscheidender Bedeutung, wenn wir die Rolle von Big-Tech-Firmen bei der Bereitstellung wichtiger technologischer Infrastrukturen wie Cloud-Dienste betrachten.“
Diese Einschätzung deutet aber darauf hin, dass Big Tech möglicherweise auf diesem neu entdeckten Interesse an Börsen und ihren Daten aufbauen wird. „Im Moment brauchen sie einander noch, aber langfristig könnte der freundliche Anbieter zu einer großen Bedrohung werden“, so Beattie.
©The Financial Times Ltd. 2022