London gleicht in diesen Tagen einem Hexenkessel. 27 Grad, keine Wolken am Himmel – da legt selbst die sonst so auf Etikette bedachte Finanzszene ihren Dresscode ab. Vor den Pubs im Bankenviertel sind gut gelaunte Menschen zu sehen, sie tragen Sonnenbrillen und haben die Ärmel ihrer Hemden hochgekrempelt. Im „Grapes“, einem Pub nahe des berühmten Leadenhall Markets, erklärt ein Mann einem anderen, er habe heute eine „riesige Möglichkeit in den Spreads gesehen“ – einen „No-Brainer“. Generell, so erklärt der Mann, sei gerade viel los. Er sei „very busy“ diese Woche.
Von diesen Möglichkeiten und der guten Stimmung spürt man in London derzeit viel. Egal wo, egal mit wem man spricht: für Europas Banken sei das Glas nicht nur halbvoll – nein, es droht gar überzulaufen.
Dieser Optimismus hat mit einem Mann zu tun, der rund 6000 Kilometer Luftlinie westlich agiert. Seit dem Wiedereinzug von Donald Trump ins Weiße Haus erlebt Europa ein ungeahntes Comeback an den Finanzmärkten, von dem selbst die kühnsten Europa-Optimisten nicht zu träumen gewagt hätten. Angetrieben wird dieses Comeback durch Investoren, die das Vertrauen in die USA verloren haben und nach neuen sicheren Häfen für ihr Geld suchen. Vorrangiges Ziel dabei ist London, das Finanzzentrum der alten Welt.
Und so wundert es auch nicht, dass selbst ein Mann wie Joseph Pinto zu Superlativen greift, als er über den Dächern Londons von Europas Chancen schwärmt. „Europa ist jetzt ohne Frage unser Schlüsselmarkt“, sagt Pinto, Chef des milliardenschweren Vermögensverwalters M&G Investments. Seine Aussagen sind umso beachtlicher, als er normalerweise als nüchterner Typ gilt – jemand, der eher monoton mit französischem Akzent redet und eine rote Krawatte zum blauen Blazer trägt. Ein Londoner Vermögensverwalter, der oft die Risiken betont und nicht die Chancen.
London hofft auf die großen Geldtöpfe
Wenn Pinto derart euphorisch ist, muss tatsächlich etwas ins Rutschen geraten sein. Sein etwas extrovertierterer M&G-Gruppenchef Andrea Rossi nickt mit dem Kopf, als Pinto davon spricht, wie riesig das Aufholpotenzial in Europa sei. Rossi selbst sagt: „Die europäischen Vermögensverwalter stehen vor goldenen Zeiten: Wir haben positive Realzinsen, die Regierungen wollen Infrastruktur bauen – haben dafür aber kein Geld und müssen es sich leihen. Dazu kürzen viele Banken noch ihre Bilanzen und vergeben weniger Kredite.“ Das alles begünstige das Geschäft für Vermögensverwalter wie M&G und generell privates Kapital, erklärt er.
Rossis Ziel ist damit klar: Er hofft auf die großen Geldtöpfe, die jetzt nach Europa fließen und hier auch gebraucht werden. Das sehe schließlich jeder, der einmal über europäische Straßen gefahren ist. Wie groß der Finanzierungsbedarf in Europa werden könnte, ist dabei kaum abzusehen. Allein von staatlicher Seite wird durch Verteidigung, Infrastruktur und Klimaschutz bis 2030 wohl ein niedriger Billionenbetrag notwendig sein, um überhaupt nur das Nötigste zu tun. Der frühere EZB-Chef Mario Draghi rechnet mit einer Investitionssumme von jährlich 800 Mrd. Euro in Europa.
Das Meiste davon wird abseits des Aktienmarktes finanziert, betonen die M&G-Experten, vor allem auf dem Anleihen- und Private-Credit-Markt. Diese in Summe deutlich größeren Märkte hätten viele Investoren aber traditionell kaum im Blick, was ein großer Fehler sei – und eine Chance für diejenigen, die es richtig machten.
Über Anleihen und private Kredite finanzieren sich Unternehmen und Staaten – wenn sie beispielsweise ein milliardenschweres Infrastrukturpaket auflegen. Dafür zahlen sie den Investoren einen vorab festgelegten Zins. Es ist damit letztlich ein einfaches, langweiliges Geschäft, wo der Geldgeber weiß, wie viel Zins er bekommt, und der Schuldner weiß, was er zu zahlen hat. Diese Kredite können zwar mitunter auch an der Börse gehandelt werden, aber die Kursausschläge sind hier meistens homöopathisch – was sie wiederum langweilig für viele Privatanleger macht. Genau deshalb sind die Kreditmärkte häufig noch in der Hand weniger Profis, gerade in Europa.
Die Stimmung stimmt, die Zahlen noch nicht
Bis sich das ändert, wird noch einige Zeit vergehen. Noch ist die Renaissance Europas schließlich nicht in den Zahlen zu erkennen. Doch das muss sie auch gar nicht, betonen die Experten. Wirtschaft ist auch Psychologie – und wenn die Stimmung dreht, wird sich das früher oder später in den Zahlen niederschlagen. Wenn also jemand wie Emmanuel Deblanc, CIO für Private Markets bei M&G, von einer Chance spricht, „die es nur alle zwei Generationen gibt“, dann ist das durchaus ernst zu nehmen für den langfristigen Erfolg Europas.
Natürlich ist auch die Londoner Finanzszene nicht naiv und verweist auf die zahlreichen Probleme in Europa. Etwa Rahul Mistry von Goldman Sachs, der auf die riesige Finanzierungslücke für mittelgroße und aufstrebende Unternehmen hinweist. Da seien die USA mit ihrem Risiko-Appetit noch immer deutlich besser und würden es auch mittelfristig bleiben. Aber: Europa wird langfristig die höheren Wachstumsraten haben, heißt es an vielen Stellen – und sei deshalb auch das deutlich spannendere Projekt.