Italien scheint seit Jahrzehnten in einer politischen Endlosschleife festzustecken, in der sich bislang fast 70 Regierungen in ebenso vielen Jahren abgewechselt haben. Die inzwischen vertraute Prozedere läuft ab wie folgt: Das Land wird von einer Krise erfasst, ein reformorientierter Technokrat wird einberufen, um strenge Maßnahmen zu ergreifen, die Politiker rebellieren und erobern die Regierung zurück – und dann geht alles wieder von vorne los.
Die Befürchtung, dass Europas drittgrößte Volkswirtschaft erneut am Anfang dieses Kreislaufes steht, ist groß, nachdem der erste Durchgang bei der Wahl des neuen Staatspräsidenten am Montag ohne Sieger blieb. Bei der Abstimmung, die sich normalerweise über mehrere Tage hinzieht, könnte Ministerpräsident Mario Draghi das prestigeträchtige, aber weniger einflussreiche Amt des Präsidenten übernehmen.
Draghi ist seit fast einem Jahr Regierungschef und hat in dieser Zeit für ein Wirtschaftswachstum von 6,3 Prozent gesorgt und eine der erfolgreichsten Impfkampagnen in Europa initiiert. Und er leitete Reformen ein, um seit langem bestehende Missstände wie die aufgeblähte Bürokratie und ein langsam arbeitendes Rechtssystem zu beheben.
Dieser Impuls könnte schnell verpuffen, wenn auf Draghi ein weniger effektiver Regierungschef folgt, der nicht den Einfluss des ehemaligen Chefs der Europäischen Zentralbank im In- und Ausland hat. Das könnte den Zugang des Landes zu mehr als 200 Mrd. Euro an Zuschüssen und Darlehen gefährden, die Italien aus dem Pandemie-Rettungsfonds der Europäischen Union zur Verfügung stehen. Es war Draghi, der diese Hilfen mit Brüssel aushandelte.
Finanzspritze als Booster für die Wirtschaft
Italien soll den größten Anteil aus dem 750-Mrd.-Euro-Paket erhalten. Mit dieser Zusage räumt die EU stillschweigend ein, dass das Land mit einem Schuldenberg in Höhe von 154 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu groß ist, um es kollabieren zu lassen.
Die erste Tranche in Höhe von 24 Mrd. Euro erhielt Italien schon 2021 für neue Bahnlinien, grüne Energieinitiativen, digitale Technologien und Projekte zugunsten von Kommunen. Damit das Geld weiter fließt, müssen die Politiker des Landes Fortschritte in den Bereichen nachweisen, in denen Italien bisher zurückgeblieben ist, etwa bei der wettbewerbsorientierten Auftragsvergabe für große Infrastrukturprojekte.

In Brüssel hofft man, dass die massiven Finanzspritzen der italienischen Wirtschaft neues Leben einhauchen werden. Seit Jahren stagniert das Wachstum, während die Schuldendynamik immer prekärer wird. „Wenn es Italien nicht gelingt, das Wirtschaftswachstum zu steigern, droht einwirtschaftlicher Rückgang, innerstaatliche Nullsummen-Streitereien über die Verteilung der Zuschüsse, die Verschlechterung der Zukunftsperspektive für junge Menschen und – sollten italienische Staatsanleihen an den Finanzmärkten abgestoßen werden – die sehr reale Möglichkeit einer akuten Finanzkrise“, warnte kürzlich noch Wirtschaftshistoriker Adam Tooze in einem Newsletter.
Anleger sind ebenfalls vorsichtig, seit Draghi verlauten ließ, dass er die Präsidentschaft nicht ablehnen würde, wenn man sie ihm anbiete. „Ich bin ein Mann und ein Großvater, wenn Sie so wollen, im Dienste des Staates“, sagte der 74-Jährige während der traditionellen Jahresendpressekonferenz am 22. Dezember. „Mein eigenes Schicksal spielt keine Rolle.“
Die Spreads zwischen italienischen und deutschen zehnjährigen Staatsanleihen haben sich im Vorfeld der Abstimmung in dieser Woche ausgeweitet, allerdings nicht enorm - ein mögliches Zeichen dafür, dass die Märkte davon ausgehen, dass Draghi nicht von der politischen Bühne verschwinden wird.
Wiederwahl als Ministerpräsident unwahrscheinlich
Draghi kam im Februar 2021 ins Amt des Ministerpräsidenten als Teil einer geschäftsführenden Regierung. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Italien in einer politischen Sackgasse. Jetzt könnte er darauf setzen, dass seine Chancen, sein politisches Erbe zu festigen, besser sind, wenn er das Amt des Ministerpräsidenten gegen das des Präsidenten mit einer siebenjährigen Amtszeit eintauscht.
Bleibt er Ministerpräsident, riskiert er, in den Sumpf politischer Machtkämpfe hineinzugeraten, wie es bei Mario Monti, einem anderen angesehenen Technokraten, der Fall war. Und obwohl er für seine heldenhafte Verteidigung des Euro während der europäischen Schuldenkrise hohe Zustimmungswerte genießt, ist es unwahrscheinlich, dass Draghi bei den nationalen Wahlen ein Mandat erhält. Bis Juni 2023 müssen landesweite Wahlen stattfinden.
Italiens Staatspräsidenten haben mehr Macht, als man auf den ersten Blick vermutet. Zwar verbringen sie viel Zeit, mit repräsentativen Aufgaben, aber ohne ihre Zustimmung wird niemand Ministerpräsident. Der Staatspräsident löst auch das Parlament auf – oder beschließt, es nicht aufzulösen – in Krisen kann er also als stabilisierende Kraft wirken. Er kann Gesetze und Dekrete ablehnen, die seiner Meinung nach nicht mit der Verfassung übereinstimmen, und er kann ein Veto gegen die Ernennung von Ministern einlegen.
„Ich denke, die Märkte und Italiens europäische Partner erwarten alle, dass Draghi ein wichtiger Akteur in der italienischen Politik bleibt, was auch immer passiert – und angesichts seiner Persönlichkeit wäre er, wenn er Präsident würde, keine schwache Figur, sondern würde eine stabilisierende Rolle spielen“, sagt Marco Cecchini, Autor einer Draghi-Biographie.
Lega könnte von Amtswechsel profitieren

Der Chef der rechtspopulistischen Lega Matteo Salvini ist in vielen Fragen mit Draghis Kabinett aneinandergeraten. Er hat sich gegen die Einführung von Regelungen für Geimpfte und Ungeimpfte gewehrt und auf umfangreiche Steuersenkungen sowie großzügigere staatliche Hilfen für Haushalte gedrängt, die durch einen Anstieg der Energiepreise in Bedrängnis geraten sind.
Obwohl Salvini Draghis Kandidatur für das Präsidentenamt nicht öffentlich unterstützt hat, könnte er zu dem Schluss gelangen, dass ein Rückzug Draghis aus dem Amt des Ministerpräsidenten seiner Partei und ihren Verbündeten die besten Chancen bietet, bei den nächsten Wahlen an die Spitze zurückzukehren. Unmittelbar vor Beginn des Wahlprozesses am Montag sagte Salvini, es wäre „gefährlich“, wenn Draghi seine derzeitige Rolle aufgäbe. Mit der eigennützigen Unterstützung Salvinis in den kommenden Tagen könnte es Draghi leichter fallen, die mindestens 505 von 1008 erforderlichen Stimmen zu erhalten, um Staatsoberhaupt zu werden.
Eine Sache, die für die eine Fortsetzung von Draghis Politik spricht, ist, dass „die Rahmenbedingungen dieses Mal sehr streng sind“, sagt Enzo Moavero Milanesi, Rechtsprofessor von der Luiss-Universität in Rom. Er diente in drei verschiedenen Regierungen als Außen- und Europaminister. Milanesi bezieht sich dabei auf die Ziele, die Italien erreichen muss, um weiterhin EU-Konjunkturhilfen zu erhalten. Letztes Jahr waren es 51, dieses Jahr werden es mehr als 100 sein. Dazu gehört auch der Nachweis, dass Italien die Gelder investiert – eine immerwährende Herausforderung angesichts des hohen bürokratischen Aufwands.
Wie auch immer die Präsidentschaftswahl ausgeht, das Parlament wird 2022 wahrscheinlich damit verbringen, alle Gesetze zu verabschieden, die erforderlich sind, um die detaillierten EU-Ziele zu erfüllen und die zweite Tranche von 40 Mrd. Euro aus dem Konjunkturprogramm zu erhalten. Das allein könnte die Politiker so sehr beschäftigen, dass sie nicht zu viel Schaden anrichten können, meint Cecchini.
Mitarbeit: Zoe Schneeweiss
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