Das Interesse am Wirecard-Prozess hatte zuletzt stark nachgelassen, zu zäh kommen die seit Dezember 2022 laufenden Verhandlungen vor dem Landgericht München I gegen den angeklagten früheren Konzernchef Markus Braun und weitere Ex-Manager voran. Doch das überraschende Lebenszeichen des untergetauchten Ex-Vorstands Jan Marsalek, der über seinen Anwalt eine Stellungnahme an das Gericht abgegeben hat, hat den spektakulären Skandal um den 2020 untergegangenen Dax-Konzern zurück in die Schlagzeilen gebracht. Capital beantwortet die wichtigsten Fragen zum Brief – und zu seiner Bedeutung für den Strafprozess gegen Ex-Wirecard-Chef Braun.
Worum geht es in dem Schreiben?
Bei der Stellungnahme an die Strafkammer des Landgerichts, die in einem der größten Wirtschaftsprozesse der Nachkriegszeit den Skandal bei dem einst gefeierten Zahlungsdienstleister aufarbeitet, handelt es sich um einen Brief von Marsaleks Anwalt Frank Eckstein. Der genaue Wortlaut des achtseitigen Schreibens, über das am Dienstag als erstes die „Wirtschaftswoche“ berichtete, ist bislang unbekannt. Aus Kreisen von Verfahrensbeteiligten ist zu hören, dass es Marsaleks Sichtweise auf mehrere Aspekte wiedergibt, die für den Prozess von zentraler Bedeutung sind.
Unter anderem soll der flüchtige Ex-Manager angeben, dass es das auf dem Papier sehr lukrative Geschäft mit sogenannten Drittpartnern in Asien, das im Zentrum des Bilanzskandals bei Wirecard steht und für das Marsalek als Vorstand verantwortlich war, tatsächlich gegeben habe. Diese Angabe steht im Widerspruch zu den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft München I. Nach den Erkenntnissen der Ermittler hat es das Drittpartnergeschäft nur zum Schein gegeben, die angeblichen, auf Treuhandkonten in Asien deponierten Erlöse von zuletzt 1,9 Mrd. Euro hätten nicht existiert – ein zentraler Punkt, auf den die Staatsanwaltschaft ihre Anklage gegen Braun aufgebaut hat.
Darüber hinaus soll Ecksteins Schreiben an das Gericht entlastende Bewertungen von Marsalek zu mehreren seiner früheren Kollegen enthalten, die im Fokus der Justiz stehen. Darunter sind neben Ex-CEO Braun auch der mitangeklagte frühere Wirecard-Chefbuchhalter Stephan von Erffa und der langjährige Finanzvorstand Burkhard Ley, gegen den die Staatsanwaltschaft ermittelt – der aber im aktuellen Prozess nicht zu den Angeklagten zählt und der die Vorwürfe zurückweist.
Dagegen soll Marsalek in dem Brief Aussagen des früheren Dubai-Statthalters Oliver Bellenhaus aus dem Prozess widersprechen. Bellenhaus hatte sich nach der Insolvenz des Zahlungskonzerns im Juni 2020 den Behörden in München gestellt hat und dient der Staatsanwaltschaft nun als Kronzeuge. Seine Glaubwürdigkeit ist also von zentraler Bedeutung für die Ankläger und den Prozess. Das Schreiben an das Gericht habe dargelegt, in welchen Punkten Bellenhaus gelogen habe, sagte Brauns Chefverteidiger Alfred Dierlamm zu Beginn des Verhandlungstermins an diesem Mittwoch. Dies zeigt: Das Braun-Lager sieht in Marsalek offenbar einen Entlastungszeugen – auch wenn das aktuelle Schreiben keine belastbaren Beweismittel wie Dokumente enthalten soll.
Welche neuen Erkenntnisse liefert das Schreiben über Marsalek?
Weniger als es zu wünschen wäre. In erster Linie belegt Marsaleks Stellungnahme über seinen Anwalt, dass der von Interpol gesuchte Ex-Manager lebt und den Prozess gegen seine früheren Kollegen verfolgt. Unklar bleibt weiterhin, wo sich Marsalek heute aufhält. Viele Indizien hatten darauf hingedeutet, dass der 43-jährige Österreicher, der zu seiner Zeit bei Wirecard enge Kontakte nach Russland unterhielt, nach seiner Flucht zunächst in Moskau abtauchte – womöglich unter der Obhut russischer Sicherheitsbehörden.
Belegt ist, dass sich Marsalek über Jahre für Sicherheitsfragen interessiert hatte und Kontakte in die Geheimdienstcommunity unterhielt. Als Manager eines Konzerns, dessen Wurzeln in Geschäften mit zwielichtigen Ecken des Internets liegen und der über jede Menge Daten zu Finanztransaktionen verfügte, war er auch für Sicherheitskreise von Interesse, wie Zeugen wie der frühere deutsche Geheimdienstkoordinator Bernd Schmidbauer im Untersuchungsausschuss des Bundestags zu Protokoll gaben.
Zuletzt war im Frühjahr 2022 bekannt geworden, dass russische Stellen dem deutschen Auslandsnachrichtendienst BND schon im Jahr zuvor das Angebot übermittelt hatten, Marsalek zu befragen. Diese Offerte lehnte der BND allerdings ab, angeblich weil er eine Falle der russischen Seite vermutete. Zeitweise soll Marsalek im Moskauer Nobelvorort Razdory in einer besonders gesicherten Wohnanlage gelebt haben. Wo und unter welchen Bedingungen er sich heute aufhält, ist ungeachtet seiner aktuellen Äußerungen zum Prozess unklar. Womöglich weiß dies nicht einmal sein Anwalt. Und selbst wenn, gibt es für die Strafverfolgungsbehörden keine Möglichkeiten, über den Anwalt an den aktuellen Aufenthaltsort von Marsalek zu kommen – solange dieser nicht kooperiert.
Warum meldet sich der Ex-Vorstand ausgerechnet jetzt zu Wort?
Wie am Mittwoch klar wurde, ist das Schreiben von Marsalek-Anwalt Eckstein schon vor mehr als einer Woche bei Gericht eingegangen – jedenfalls vor dem jüngsten großen Auftritt von Brauns Chefverteidiger Dierlamm im Prozess. Dierlamm hatte vergangenen Donnerstag eine schon vor mehreren Wochen angekündigte Erklärung abgegeben sowie mehrere umfangreiche Beweisanträge vorgelegt, mit denen er nach eigener Darstellung die Anklage der Staatsanwaltschaft aus den Angeln heben und dem Prozess eine Wende geben will. Kern von Dierlamms schon länger verfolgter Verteidigungslinie, für die er nun neue Beweismittel einbrachte: Das Drittpartnergeschäft bei Wirecard habe tatsächlich existiert, allerdings seien Milliardenerlöse daraus hinter dem Rücken von CEO Braun abgezogen und veruntreut worden – von einer „Bande“ um Marsalek und Bellenhaus.
Ob Marsaleks Wortmeldung in einem Zusammenhang mit dem aktuellen Geschehen im Prozess steht, darüber lässt sich nur spekulieren. Wenn der flüchtige Manager angibt, das ominöse Drittpartnergeschäft habe grundsätzlich real existiert – was nicht nur den Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft widerspricht, sondern auch jenen von Wirecard-Insolvenzverwalter Michael Jaffé –, dann scheint dies zwar zunächst die Darstellung des Braun-Lagers zu stützten. Allerdings basiert die Verteidigung des Ex-Konzernchefs auf der These, dass die vermeintlich realen Drittpartnererlöse von einem Kreis um Marsalek veruntreut worden seien. Zu diesem Teil der Argumentation soll sich in dem Brief keine Rückendeckung finden – andernfalls würde sich Marsalek auch selbst schwer belasten.
Was bedeutet die Stellungnahme für den Prozess?
Zu Beginn des Verhandlungstermins an diesem Mittwoch kam es zu einem Scharmützel zwischen Braun-Verteidiger Dierlamm auf der einen Seite sowie dem Vorsitzenden Richter Markus Födisch und Staatsanwältin Inga Lemmers. Dierlamm dringt darauf, die Stellungnahme von Marsaleks Anwalt in den Prozess einzuführen und der Öffentlichkeit zur Kenntnis zu geben – offenbar weil er in Marsaleks Angaben eine Entlastung seines Mandanten sieht. Födisch zeigte sich reserviert, auch in der Frage, ob die Angaben von Brauns Ex-Vorstandskollegen überhaupt in einem massiven Gegensatz zu den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft und des Kronzeugen Bellenhaus stehen.
Interessant werden könnte es dann, wenn Marsalek in Zukunft nachlegen sollte und seine Darstellung mit Beweismitteln wie Kontoauszügen, Kommunikation oder anderen Dokumenten untermauern würde – sofern er dies denn wollte und könnte. Der Prozess jedenfalls ging am Mittwoch nach dem anfänglichen Schlagabtausch über Marsaleks Wortmeldung routinemäßig weiter – mit der Zeugenvernehmung der früheren Produktvorständin Susanne Steidl.
Wie glaubwürdig sind Marsaleks Angaben?
Grundsätzlich müssen Ausführungen von Marsalek mit hoher Skepsis betrachtet werden. Der langjährige Vertraute von CEO Braun steht als Verantwortlicher für das Drittpartnergeschäft, in das laut früheren Mitarbeitern nur wenige im Konzern überhaupt Einblick hatten, selbst im Zentrum des Skandals. Er ist Beschuldigter in einem Ermittlungsverfahren, hat sich aber durch seine Flucht der Strafverfolgung und der Aufklärung der Vorwürfe entzogen.
Zudem hatte Marsalek in den Jahren vor der Insolvenz keinerlei Scheu, die Justizbehörden zum Narren zu halten und ihnen teils abenteuerliche Geschichten vorzutragen, um das Unternehmen und sich selbst gegen die schon damals im Raum stehenden Betrugsvorwürfe zu verteidigen. So war Marsalek etwa Anfang 2019 maßgeblich daran beteiligt, Wirecard gegenüber der Münchner Staatsanwaltschaft als Opfer eines Erpressungsversuchs von Vertretern der „Financial Times“ und der US-Nachrichtenagentur Bloomberg zu präsentieren – woraufhin die deutschen Behörden dem Konzern zur Seite sprangen und gegen kritische Journalisten ermittelten. Das Protokoll einer Zeugenvernehmung von Marsalek bei der Staatsanwaltschaft dazu liest sich wie eine Märchenstunde.
Darüber hinaus ließ der Manager im Juni 2020, nachdem klar geworden war, dass die 1,9 Mrd. Euro auf Treuhandkonten in Asien tatsächlich nicht existierten, gegenüber der damaligen Chefermittlerin Hildegard Bäumler-Hösl erklären, er reise auf die Philippinen, um das Geld zu suchen. Tatsächlich setzte er sich unbehelligt nach Minsk ab, von wo aus er mutmaßlich nach Russland weiterreiste.
Das alles heißt nicht, dass sämtliche Angaben von Marsalek auch heute automatisch falsch sein müssen. Aber solange etwa auch nicht geklärt ist, in welchem Verhältnis er zu russischen oder anderen Sicherheitsbehörden steht und welche Interessen diese mit Blick auf die Aufklärung des Wirecard-Skandals und den Prozess haben, sind erhebliche Zweifel geboten – insbesondere, solange er keine Beweismittel vorlegt. Der Verteidiger des Kronzeugen Bellenhaus, Florian Eder, formulierte es gegenüber der „Wirtschaftswoche“ so: „Man kann viel schreiben und viel sagen, man muss aber nicht alles glauben.“