Die ungleiche Bezahlung der Geschlechter ist immer noch eine bedrückende europäische Realität. Obgleich das Ziel der Entgeltgleichheit zwischen Frauen und Männern bereits im Jahr 1957 im Artikel 119 im Gründungsvertrag der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) festgelegt wurde, geht es nur im Schneckentempo voran.
Millionenfach erfahren Frauen noch immer eine Ungleichbehandlung und monetäre Minderwertschätzung ihrer Arbeit. Im Schnitt verdienen Frauen in der EU rund 14,1 Prozent (unbereinigter Gender-Pay-Gap) weniger pro Stunde als ihre männlichen Kollegen. Spitzenreiter der Ungleichheit sind Estland und Lettland mit rund 21 Prozent, Österreich mit 20 und Deutschland mit 19 Prozent, während Italien mit rund fünf Prozent, Bulgarien mit drei und Luxemburg mit etwa einem Prozent die geringsten Unterschiede aufweisen.
Vielfältige Faktoren wie die Teilzeitquote, (bezahlte oder unbezahlte) Auszeiten für Kinder oder die starke Repräsentanz von Frauen in den sozialen Berufen beeinflussen diese Ungleichheit. Doch damit nicht genug. Zusätzlich zur Erwerbsarbeit widmen sich Frauen in der EU rund 22 Stunden die Woche (Männer neun Stunden) der unentgeltlichen Sorgearbeit, etwa im Haushalt, bei der Erziehung oder der Pflege von Angehörigen. Arbeiten also, die vielfach von der Gesellschaft (und besonders von uns Männern) als selbstverständlich wahrgenommen und zu oft übersehen werden.
Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ist ein Armutszeugnis
Dabei bremst die strukturelle Ungleichheit nicht nur Millionen Frauen in der EU mit ihren Qualitäten und Fähigkeiten aus, sondern schwächt unsere Gesellschaften insgesamt. Der Kontinent nutzt das Potenzial von über 50 Prozent der Bevölkerung unzureichend. Wie viele Innovationen und Ideen bleiben dadurch auf der Strecke, wie viele Talente und Lösungswege unentdeckt?
Das ist keinesfalls nur eine ökonomische Frage, es ist allen voran eine Gerechtigkeits- und Prinzipienfrage. Die tagtägliche Missachtung der europäischen Zielsetzung der Entgeltgleichheit, welche seit Gründungstagen Teil der europäischen DNA ist, ist ein Armutszeugnis. Der Nichteinsatz gegen Geschlechterungerechtigkeit kann in der Folge kein Bestandteil einer ernsthaften europäischen Haltung sein.
Mit den im März 2021 vorgestellten Maßnahmen zur Lohntransparenz geht die EU Kommission nächste Schritte in diese Richtung, aber noch nicht weit genug. Nach 60 Jahren Bemühungen, den verschiedensten EU-Richtlinien und begrenzt wirkungsvollen freiwilligen Bekundungen braucht die EU Klarheit und Entschlusskraft.
Lohnungleichheit muss verboten werden
Wir schlagen vor, dass innerhalb der EU die ungleiche Bezahlung zwischen Frauen und Männern bei gleicher Arbeit verboten und damit Artikel 119 der Römischen Verträge realisiert wird. Ein Blick nach Island zeigt, warum das funktioniert und warum es nötig ist, „etwas Radikales zu unternehmen“, wie es der isländische Sozialminister Þorsteinn Víglundsson formulierte. Seit dem 1. Januar 2018 ist die Insel der weltweit erste Staat, der geschlechterbasierte Lohndiskriminierung gesetzlich verbietet und einen Verstoß sanktioniert. Unternehmen und Behörden mit mehr als 25 Mitarbeitenden müssen sich zertifizieren lassen, dass sie gleiche Löhne für beide (alle) Geschlechter zahlen. Wer es nicht tut, riskiert Strafen.
Ein Jahr nach Einführung hatten sich immerhin schon die Hälfte der Unternehmen zertifiziert. Flankiert wird das neue Gesetz von einer Reihe anderer Maßnahmen, die Island bereits einige Jahre zuvor eingeführt hatte. Beispielsweise von einer Frauenquote von 40 Prozent in Führungspositionen, der Aufnahme dieser Thematik in die Schullehrpläne oder auch der Schaffung eines Ministeriums für Gleichberechtigung.
Wir schlagen vor, vom isländischen Erfolg zu lernen und die geschlechterspezifische Lohndiskriminierung in der EU durch eine eigene Verordnung, die von den Mitgliedsstaaten in vollem Umfang umzusetzen ist, konsequent zu untersagen. Die Nationalstaaten sollen zusätzlich auf ihren regionalen und föderalen Ebenen Strukturen schaffen, die die Einhaltung in Unternehmen und Institutionen regelmäßig überprüfen und bei Verstoß ahnden.
Europa als erster Kontinent mit Lohngleichheit
Europa kann so zum weltweit ersten Kontinent werden, in dem Lohngleichheit endlich eine Realität wird. Damit lösen wir nicht nur ein zentrales Versprechen aus den Gründungsverträgen der EU ein, wir entfesseln auch tausendfach neues Potential. Außerdem kann die Konsequenz im Umgang mit der Lohnfrage zu mehr Ambition bei der Adressierung weiterer Gerechtigkeitslücken zwischen den Geschlechtern führen.
Von der Rente über die Sorgearbeit bis hin zur Repräsentanz von Frauen in Medien, Unternehmen und Politik. Wir wollen auf einem Kontinent leben, in dem nicht das Geschlecht darüber entscheidet, was wir verdienen, um wen wir uns kümmern oder wieviel Einfluss wir haben. Wir wollen auf einem Kontinent leben, in dem Frauen, Männer und alle anderen gleichberechtigt am ökonomischen, sozialen und politischen Leben teilhaben können. Alles andere ist schlichtweg uneuropäisch!
Vincent-Immanuel Herr (32) und Martin Speer (34) sind Autoren, Feministen und Berater aus Berlin. Gemeinsam machen sie sich als Team HERR & SPEER für eine geschlechtergerechte Gesellschaft und das vereinte Europa stark. Für ihr Engagement wurden sie u.a. mit dem Jean-Monnet-Preis für europäische Integration ausgezeichnet. Der Gastbeitrag ist ein angepasster Auszug aus ihrem Buch „Europe For Future – 95 Thesen, die Europa retten“, das am 2. August im Droemer-Verlag erschienen ist.