Capital: Herr Goebel, Union und SPD haben in ihrem Sondierungspapier der „überbordenden Bürokratie“ den Kampf angesagt und angekündigt, die Bürokratiekosten innerhalb der nächsten vier Jahre um 25 Prozent zu reduzieren. Wie finden Sie das?
LUTZ GOEBEL: Das ist ein ambitioniertes Ziel – und ambitionierte Ziele begrüßen wir ausdrücklich. Der Normenkontrollrat fordert das übrigens auch seit geraumer Zeit. Allerdings gehen wir noch einen Schritt weiter und wollen auch den Erfüllungsaufwand um 25 Prozent senken. Die Ankündigungen von Union und SPD sind aber auch so ein starkes Signal für Unternehmen und Bürger sowie die Verwaltung. Entscheidend wird sein, dass diesen Ankündigungen nun auch konkrete Maßnahmen folgen. Denn allein mit einem Zielwert ist es nicht getan.
Wie hat sich die bisherige Regierung beim Bürokratieabbau geschlagen?
Insbesondere die Wachstumsinitiative aus dem letzten Sommer war richtig gut. In puncto Bürokratieabbau war das der größte Aufschlag, den es je gegeben hat. Zum Beispiel wurde entschieden, dass wir bei den vielen Verordnungen, die uns aus der EU erreichen, nicht weiter noch etwas draufgesattelt wird – das sogenannte Goldplating. Dann wurden jährliche Bürokratieentlastungsgesetze angekündigt. Und drittens ging es um die vermehrte Anwendung von Praxischecks.
Also das im Wirtschaftsministerium unter Robert Habeck vorangetriebene Verfahren, Gesetze auf ihre Aus- und Wechselwirkungen zu prüfen.
Genau. Die Politik hat nämlich festgestellt, dass sie die Energiewende nicht umsetzen kann, wenn es in der Praxis überall hakt, beim Ausbau von Photovoltaik, Windkraft, Gründungen und so weiter. Die Idee ist, dass Sie wie mit einem Helikopter auf eine Rechtssituation blicken und sich anschauen, wie Bundesgesetze, Landesgesetze und Rechtsprechung zusammenhängen. Und zuletzt wollte die Ampel sogar ein Bürokratieentlastungsportal einführen, auf dem der Bürger sich beschweren kann. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe für die Politik: Wenn Sie da nicht zeitnah antworten, dann haben Sie ein Problem. Das waren in Summe also sehr gute Ideen.
Aber?
Aber wegen des vorzeitigen Endes der Ampelregierung ist das alles nicht durch den parlamentarischen Prozess gekommen. Auch das Vergabetransformationsgesetz, das die Art und Weise, wie wir ausschreiben, massiv verändert hätte, ist nicht durchgekommen, genauso Reformen im Bauvertragsrecht und im Bauplanungsrecht, auch die Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren ist noch nicht durch. Da ist also sehr, sehr viel noch in der Pipeline, was eine neue Regierung sehr schnell umsetzen kann. Und das sollte sie auch unbedingt tun.
Verabschiedet hat die Ampel im vergangenen Jahr aber ihr zentrales Bürokratieentlastungsgesetz.
Ja. Der Bundeskanzler hatte im Sommer 2023 im Prinzip allen Ministern auf der Klausurtagung in Meseberg gesagt: Ihr müsst jetzt ein Bürokratieabbaugesetz machen. Das war dann auch ein Riesengesetz, das gesamte letzte Jahr wurde daran gearbeitet. Federführend war das Justizministerium. Einige Ministerien hatten eigene Entlastungspakete geplant, anstatt ihre Abbauideen in einem Artikelgesetz eingehen zu lassen. Grundsätzlich gibt es ein Problem: Die Bürokratieentlastungsgesetze funktionieren nach dem Prinzip der Freiwilligkeit, die Ministerien sind aufgefordert, mehr nicht. Manche Ressorts bauen gar nichts ab oder ruhen sich auf kleinen Erfolgen aus. Aber das waren dann meistens die „low hanging fruits“. Die sind mittlerweile alle abgeerntet. Da ist nichts mehr, was noch in den Schubladen herumliegt. Man müsste jetzt konsequent an die Prozesse ran.
Zeigt sich da nicht das Problem, dass es beim Bürokratieabbau eben häufig nicht nur um Prozesse geht, sondern um politische Inhalte und Wertvorstellungen? Und da wäre es ja normal, wenn die auseinandergehen.
Nein, es geht doch darum: Wenn Sie Bürokratie abbauen, kostet das praktisch nichts. Sie haben ein Konjunkturprogramm zum Nulltarif. Bürokratie ist so mächtig und hinderlich. Und langsam erkennen alle Parteien, dass es so nicht weitergeht. Bei SPD und Grünen wurde Bürokratieabbau häufig mit dem Abbau von sozialen oder ökologischen Standards verwechselt. Aber über die Standards muss politisch entschieden werden. Wie das umgesetzt wird, ist ein ganz anderes Thema – das können Sie davon trennen. Sie müssen das besser organisieren.
Haben Sie ein Beispiel?
Wir haben uns in einem Gutachten das Verwaltungsgefüge im Sozialstaat angeschaut. Da gibt es Leistungen, die müssen an vier verschiedenen Stellen beantragt und dann von acht verschiedenen Stellen ausgezahlt werden. Das ist absurd. Wir haben einen Vorschlag gemacht, wie man das bündeln kann. Machen wir uns nichts vor, das wäre ein großes Projekt, weil fünf Ministerien betroffen wären. Aber man erkennt jetzt langsam, dass es so nicht weitergehen kann. Sie kommen nicht aus Baden-Württemberg, oder?
Doch, ursprünglich schon.
Dann wissen Sie, in Baden-Württemberg gibt es Städte, die haben 1500 Einwohner und eine komplett eigene Stadtverwaltung jeweils mit eigenem Integrationsbeauftragten. Wenn der im Urlaub ist, dann passiert nichts – und deswegen dauert die Visaklärung für Geflüchtete, die bei uns arbeiten wollen, teilweise ein halbes Jahr. Und dann ist der Flüchtling weg. Auch die Erteilung von Kfz-Kennzeichen und Führerschein ließe sich sehr leicht bündeln. Wir haben 11.000 Kommunen. Es macht doch überhaupt keinen Sinn, dass jeder die gleiche Leistung anbieten muss. Das kann man zusammenführen.
Am meisten gejammert wird aber über die Bürokratiebelastung, die uns aus Brüssel erreicht.
Die EU-Gesetze sind definitiv die dickste Brocken, die Unternehmer am meisten ärgern und behindern: Lieferkettengesetz, Nachhaltigkeitsberichterstattung, Taxonomie, Entwaldungsverordnung. Die EU hat jetzt angekündigt, diese miteinander zu verschneiden, immerhin. Manches dabei ist völlig trivial: Wir müssen als Unternehmen bei der Lieferkette dauernd irgendwelche Fragebögen unserer Kunden ausfüllen. Die Fragebögen sind alle unterschiedlich. Wenn das wenigstens vereinheitlicht würde, wäre schon viel gewonnen. Meine Tochter, die unser Familienunternehmen führt, sagt: Die Nachhaltigkeitsberichterstattung ist ein Riesenthema, so etwas haben wir noch nie gehabt, das lässt sich fast nicht mehr handhaben. Die Welt läuft uns im Wettbewerb davon und wir machen Paperwork.
Verlässt Sie da manchmal der Mut, weil es so etwas wie ein natürliches Wachstum der Bürokratie gibt, dem man einfach nicht beikommen kann?
Nein. Denn in den letzten zwei Jahren ist da richtig Bewegung reingekommen und Bürokratieabbau ist jetzt ein Riesenthema. Der Verband Die Familienunternehmer, die jedes Quartal ihre Mitgliedsunternehmen befragt, sagt, das größte Investitionshemmnis ist die Bürokratie. Seit anderthalb Jahren steht das an erster Stelle – das war vorher nicht so. Die Unternehmer sagen: Es ist der völlige Wahnsinn! Aber wir verlieren nicht den Mut, im Gegenteil. Jetzt kommt Bewegung rein.
Wie drängend das Problem ist, zeigt der Blick nach Argentinien oder die USA, wo rechtslibertäre Kräfte die Bürokratie mit der Kettensäge kurz und klein sägen. Auch in Deutschland sehnen sich inzwischen Wirtschaftsführer nach solchen radikalen Lösungen.
Ich kann das nachvollziehen, aber die Ansätze eines Herrn Musk oder eines Herrn Milei sind für uns ungeeignet. Bürokratieabbau mit der Kettensäge ist hier keine Option. Was aber durchaus stimmt, ist, dass es neue Ansätze braucht. Angenommen, ein Unternehmer merkt, dass seine Prozesse alle zu kompliziert sind, dass alles zu lange dauert und zu viel Geld kostet. Dann muss er die Prozesse komplett überarbeiten. So müssten wir beim Bund auch vorgehen, von Grund auf. Machen wir uns doch nichts vor! Die Wirtschaft schrumpft und der Staat wächst weiter. Da stimmt doch was nicht. Wir müssten an vielen Stellen wirklich mal die Frage stellen: Braucht es immer gleich ein Gesetz? Ist die Aufgabe wirklich notwendig? Ja, das wäre radikal. Aber es geht nicht anders. Wir werden sonst erschlagen.
Gibt es so etwas wie ein Leuchtturmprojekt – ein Thema, wo uns der Abbau von Bürokratie wirklich gelungen ist?
Ich nenne mal als Beispiel die Grundrente. Da geht es nur um vergleichsweise kleine Beträge – aber die gibt es nur, wenn der Empfänger keine Kapitalerträge hat. Wenn die Nachweise dafür nicht digital vorliegen, musste man das bislang analog in Person abklären, ob jemand über Kapitalerträge verfügt. Das ist Wahnsinn. Der denkbar mögliche Missbrauch stand in keinem Verhältnis zu dem notwendigen Kontrollaufwand. Das abzuschaffen, stand auf unserer Liste und da hat der Arbeitsminister zugestimmt. Das ist auch grundsätzlich der richtige Ansatz: Wir brauchen mehr Pauschalierungen und Stichproben, anstatt jeden Einzelfall aufwändig und teuer bis ins Detail zu regeln. Deutschland kann sich diesen Perfektionismus nicht mehr leisten, wenn es international wettbewerbsfähig bleiben will.
Also brauchen wir einen Mentalitätswandel?
Ja, es braucht einen Staat, der seinen Bürgern und Unternehmen mit mehr Vertrauen begegnet – und nicht mit Misstrauen als Grundprinzip. Es geht dabei auch um diese weit verbreitete Vorstellung, wir könnten mit Gesetzen Einzelfallgerechtigkeit schaffen. Wenn irgendjemand Geld bekommt, der das nicht bekommen sollte, steht das am nächsten Tag in der Zeitung. Aber das funktioniert nicht mehr. Da müssen wir von weg, das können wir so nicht mehr darstellen. Wir sollten nicht mehr alles bis ins allerletzte regeln.
Mehr zur Herkulesaufgabe Bürokratieabbau lesen Sie in der aktuellen Ausgabe von Capital, die ab Samstag, 15. März, am Kiosk liegt. Online können Sie das Heft im Web-Shop erwerben oder mit Capital+ hier lesen: Woran der Bürokratieabbau scheitert.