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Kommentar Trump und die vergessenen Männer

Wie viele Politiker vor ihm, benutzt Trump die "vergessenen Menschen" für seinen Wahlkampf. Die Strategie ist eine Alte
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© Getty Images

Amity Shlaes ist Autor von „The Forgotten Man: A New History of the Great Depression“ (Harper 2007)

„Ich habe die entlassenen Fabrikarbeiter besucht, und die Gemeinden, die durch unsere abscheulichen und unfairen Handelsabkommen zerstört wurden. Sie sind die vergessenen Männer und Frauen unseres Landes“ (Donald Trump am 21. Juli 2016)

Der aktuelle Präsidentschaftskandidat der Republikaner ist nicht der erste Politiker, der den Terminus „Forgotten Man“ benutzt. Der Begriff stammt aus dem Ende des 19. Jahrhunderts – damals erfuhr der Wähler, dass der Forgotten Man gegen das Dingley-Gesetz war, das die Zölle erhöhte. Seit dieser Zeit ist der Forgotten Man regelmäßig aufgetaucht und auch heute noch findet er Widerhall. Zum Beispiel hat Sarah Palin, die republikanische Vizepräsidentschaftskandidatin von 2008, bei einem Treffen führender Konservativer vor zwei Jahren erklärt, dass „der Forgotten Man an die Einzigartigkeit dieser Nation glaubt“.

Aber was genau meinen Politiker, wenn sie vom „Forgotten Man“ reden? Zwei – gegensätzliche Definitionen beherrschen die Diskussion . Welcher von beiden Donald Trump anhängt, gibt uns Aufschluss darüber, wie seine Präsidentschaft aussehen könnte.

Forgotten Man als Warnung

Der Forgotten Man wurde in den 1880ern von einem Yale-Professor namens William Graham Sumner erschaffen. Sumner, eine Art Gegenentwurf zu Thomas Piketty, verabscheute Versuche gesellschaftlicher Gleichmacherei, und er verpackte seine Kritik in einer eleganten Gleichung: „Sobald A etwas auffällt, woran X leidet und das ihm falsch erscheint, spricht A mit B darüber, und A und B schlagen dann gemeinsam ein Gesetz vor, um das Böse zu heilen und X zu helfen. Ihr Gesetzentwurf schreibt dabei immer C vor, was er für X tun soll – oder im besten Fall, was A, B und C für X tun sollen.“

„C“, so Sumner, sei der Forgotten Man, eine Art Jedermann, der in keine Kategorie fällt. „“Er arbeitet, er wählt, meistens betet er. Aber immer zahlt er – ja, vor allem zahlt er.“ Sumner war ein klassischer Liberaler, überzeugt davon, dass Handel den Armen mehr hilft als Wohltaten einer noch so guten Regierung. „Wer etwas für den Forgotten Man tun will, der muss ihm sein Einkommen und seine Ersparnisse sichern. Das heißt, Gesetze verabschieden, die das Kapital und seine freie Verwendung schützen.“

Zu Lasten des Forgotten Man ging laut Sumner auch das, was er „Jobbery“ (Bereicherung Einzelner auf Kosten anderer) nannte. In den 1870/80er-Jahren, der Ära des mächtigen Demokratischen Parteigruppierung Tammany Hall und seines korrupten Anführers William Tweed, taten sich Verwaltungen von Städten und Bezirken mit privaten Vertragspartnern zusammen, um öffentliche Strukturen aufzubauen. Sumner nahm solche Projekte aufs Korn: „Sie werden nicht umgesetzt, weil sie wirklich gebraucht würden. Sondern weil sie partikularen privaten Interessen dienen.“ Der größte „Job“ in diesem Sinne seien Schutzzölle. Denn diese würden für die Verbraucher „vergessene Kosten“ schaffen – und „vergessene Menschen“.

Sumners Forgotten Man war ein politisches Phänomen, eine Warnung, die den Reformern beider Parteien Argumente lieferte. Sumners Freund William Collins Whitney war führend in der Anti-Tammany-Bewegung und diente in der Regierung des demokratischen Präsidenten Grover Cleveland.

Dass wir so wenig über den 1910 verstorbenen Sumner wissen, zeigt wie gründlich die akademische Kultur vom Progressivismus übernommen wurde. In den frühen 1930er-Jahren und während der Großen Depression betrat ein anderer Forgotten Man die politische Bühne. Raymond Moley, Wahlkampfberater des Präsidentschaftskandidaten Franklin Roosevelt schrieb für den damaligen New Yorker Gouverneur eine Rede für einen Auftritt in der Lucky Strike Radio Hour (einer erfolgreichen Samstagabend-Sendung von NBC-Radio). „Tief aus meinem Gedächtnis habe ich eine alte Redewendung geholt, die dort seit Jahren herumspukte: den Forgotten Man“, erklärte Moley später.

Roosevelts "Forgotten Man"

Der Forgotten Man Roosevelts war nicht der universelle „C“, sondern „X“ – der Mann, wie er es formulierte, „am Fuß der ökonomischen Pyramide“. Der entscheidende Unterschied zu Sumner war, dass Roosevelt bestimmte Gruppierungen herausgriff, beginnend mit den Armen. Roosevelts Forgotten Man war das Gegenteil von Sumners. Roosevelts Vorgänger als Präsidentschaftskandidat, Al Smith, lehnte diese Neudefinition ab. Smith, der selbst aus sehr einfachen Verhältnissen stammte, warnte, dass die Betonung von Klassenunterschieden das Land spalte, wo es doch gerade Einigkeit benötige. „Der Forgotten Man ist ein Mythos“, sagte Smith, „und je eher der aus der Kampagne verschwindet, desto besser für das Land“.

Doch Roosevelts Forgotten Man trug ihn zum Wahlsieg 1932 und definierte sein Programm für die Wiederwahl-Kampagne. Mit der heranrückenden Präsidentschaftswahl 1936 identifizierte und belohnte er eine Gruppe der „Vergessenen“ nach der anderen.

Die Gewerkschaften bekamen das Wagner-Gesetz, das Recht auf kollektive Tarifverhandlungen. Die Senioren bekamen soziale Sicherheit. Städtische Lobbys bekamen Milliarden für „Jobbery“. Die Arbeitslosen bekamen finanzielle Unterstützung oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (sogenannte make-work jobs). Donnernd rief Roosevelt in einer Rede in der Howard Universität: „Es darf keine Forgotten Men und keine vergessenen Rassen geben.“

Seine Interessengruppen-Strategie verschaffte Roosevelt 1936 einen Erdrutschsieg – 46 von 48 Bundesstaaten – und schuf eine Schablone, die seitdem nicht nur seiner eigenen Partei, sondern vielen Regierungen Lateinamerikas zu Nutzen war. Vergessen wurde allerdings die Fußnote: In ihr steht, dass das wirtschaftliche Ergebnis von FDR’s Programm Sumner nachträglich recht gibt. Wer sich an so viele Forgotten Men erinnert, vergisst den Durchschnittsarbeiter. Der Wirtschaftseinbruch, der Roosevelts Blitz-Ausgabenprogramm folgte, ließ die Arbeitslosenquote wieder deutlich in den zweistelligen Bereich steigen.

In Anspielung auf Roosevelt fragte ein Zeitung aus dem US-Bundestaat Indiana: „Wer ist der Forgotten Man in der Stadt Muncie? Ich kenne ihn so gut wie mein eigenes Unterhemd. Er ist derjenige, der versucht ohne staatliche Fürsorge auszukommen.“

Wer ist der Forgotten Man?

In jüngerer Vergangenheit tauchte der Forgotten Man dann zum Beispiel in Richard Nixons Wahlkampf 1968 auf, als der von „der großen Mehrheit der Amerikaner“ sprach, „der vergessenen Amerikaner, die nicht schreien und nicht demonstrieren“.

Und wo steht Trump? Bei Sumners anonymer Masse oder Roosevelts spezifischen Gruppen? Vom Temperament her ist Trump jemand, der Deals abschließt, also liegt ihm tendenziell Roosevelts Denkweise. Sein Projekt der Atlantic City passt perfekt in die Sumnerische Definition von „Jobbery“. Trumps unverfrorener Protektionismus hat zwar nichts mit Roosevelt zu tun, der in Sachen Freihandel eine Ausnahmeerscheinung war, aber viel mit der Demokratischen Partei. Aber Trump spielt nicht Reiche gegen Arme aus. Er könnte also am Ende mehr für den allgemeinen als den individuellen Forgotten Man stehen.

Uns wird gesagt, dass diese Wahl „anders“ ist. Vielleicht ist sie anders genug, um eine echte Debatte darüber zu führen, welche Konsequenzen Sonderleistungen für einzelne Gruppen haben. Viele Wähler würden sich davon begeistern lassen, wenn Trump Sumners Unterscheidung zwischen „Jobbery“ und echtem Kapitalismus aufnehmen würde. Und wie großartig wäre es, wenn Hillary Clinton Trump beim Thema Handel mit der Entschlossenheit eines Sumners angehen würde. Hier ist eine Eröffnungsfrage für die erste TV-Debatte der beiden Kandidaten Trump und Clinton: „Wer ist der Forgotten Man?“

Copyright Wall Street Journal 2016

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