Mit Thailand taumelt, die am weitesten entwickelte und komplexeste Volkswirtschaft Südostasiens, am Rande des politischen Abgrunds. Das übrige Asien freilich scheint seine Augen größtenteils von den anhaltenden und zunehmend anarchischen Unruhen im Lande abzuwenden. Diese Gleichgültigkeit ist nicht nur töricht, sondern auch gefährlich. Asiens Demokratien laufen Gefahr, mit derselben brutalen Frage konfrontiert zu werden wie die USA, als Mao Zedong in Peking einmarschierte und dann wieder, als Ayatollah Ruhollah Khomeini im Iran den Schah vertrieb. Wer, so werden sie sich fragen müssen, hat den Verlust Thailands zu verantworten?
Weite Teile der Welt wundern sich, wie es eine derart erfolgreiche Volkswirtschaft zulassen konnte, dass ihre Politik derart außer Kontrolle gerät. Was ist der Grund für die Heere von Demonstranten, die sich wie Straßengangs anhand der Farbe ihrer Hemden unterscheiden und deren gegenseitige Antipathie häufig an nihilistische Wut grenzt?
Die Wurzeln der aktuellen Unruhen reichen mehr als ein Jahrzehnt zurück zum ersten Wahlsieg des früheren Ministerpräsidenten Thaksin Shinawatra im Jahr 2001. Thaksins Triumph stellte keine normale Machtverschiebung dar, wie es das in einer Demokratie gibt. Stattdessen kündete sein Sieg vom politischen Aufstieg der armen, lange Zeit zum Schweigen verurteilten ländlichen Bevölkerungsmehrheit. Bangkoks abgeschottete Elite schreckte alarmiert auf.
Thaksin - der Mann im Hintergrund
Doch statt zu lernen, wie sie mit Thaksin um die Stimmen der armen Landbevölkerung konkurrieren könnte, versuchte Thailands städtische Elite (einschließlich des mächtigen Militärs), Thaksins Herrschaft die Legitimation zu entziehen. Nach seiner Wiederwahl mit sogar noch größerer Mehrheit wurde seine Regierung gestürzt, seine Partei vom Obersten Gerichtshof verboten, und er selbst war gezwungen, aus dem Land zu fliehen, nachdem Korruptionsvorwürfe gegen ihn in eine strafrechtliche Verurteilung mündeten.
Aber Thaksins Unterstützer ließen ihn nicht im Stich. Als Thailands Militär in die Kasernen zurückkehrte, wählten viele thailändische Bürger das Thaksin naheliegendste, das im Angebot war: Seine Schwester Yingluck Shinawatra, eine langjährige Führungskraft in Thaksins Kommunikationsunternehmen, wurde Ministerpräsidentin, gestützt durch eine starke parlamentarische Mehrheit.
Während des größten Teils ihrer Amtszeit erwarb sich Yingluck Lob für ihren Pragmatismus und ihr Bemühen, die Feindschaft ihrer Gegner zu mildern. Doch Lob und Erfolg scheinen eine Form von Selbstüberschätzung hervorgebracht haben. Sie schlug ein Amnestiegesetz vor, das nicht nur führende Oppositionspolitiker wie ihren Amtsvorgänger Abhisit Vejjajiva (der des Mordes angeklagt ist) begnadigt, sondern auch ihrem Bruder die Rückkehr nach Thailand gestattet hätte. Und unter Missachtung einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofes bemühte sie sich um eine Verfassungsänderung, die den Senat, dessen Mitglieder ernannt werden, zu einem gewählten Organ machen würde.
Die Opposition, die spürte, dass ihre Stunde gekommen war, reagierte mit einer Demonstrationswelle. In dem Bemühen, die Situation zu entschärfen, rief Yingluck für Februar Neuwahlen aus. Doch die Opposition lehnt das ab und erklärt, dass sie die Wahlen boykottieren wird. Sie fürchtet – aus Sicht der meisten Bürger wohl zu Recht –, dass das Thaksin-Lager in einer freien und fairen Wahl erneut an die Macht kommen wird.
Thailand ist zu wichtig
Was derzeit in Thailand abläuft, ist also im Wesentlichen der Versuch der Opposition und der abgeschotteten Elite des Landes die Demokratie abzuschaffen. Da sie nicht erfolgreich mit Thaksin um Wählerstimmen konkurrieren können, wollen sie jetzt die thailändische Demokratie verwässern, damit die Bevölkerung nie wieder eine Regierung wählen kann, die ihnen nicht passt.
Wäre Thailand ein unwichtiges Land ohne größeres geostrategisches Gewicht, wären seine Probleme möglicherweise für das übrige Asien nicht von solcher Bedeutung. Aber Thailand ist Südostasiens wirtschaftlicher Dreh- und Angelpunkt. Es ist ein wichtiger Partner für Myanmar, das gerade seinen eigenen politischen und wirtschaftlichen Wandel durchläuft, und es ist ein Drehkreuz für den Handel mit den Nachbarländern Kambodscha, Laos und Vietnam.
Doch der wichtigste Grund, warum Thailand für Asiens Demokratien so wichtig ist, ist der erbitterte Wettstreit um Einfluss zwischen dem aufstrebenden China und der demokratischen Welt. Bisher war Thailand klar dem demokratischen Lager zuzurechnen. Sein Militär ist überwiegend von den USA ausgebildet, und Thailand war für die USA die wichtigste Zwischenstation während des Vietnamkrieges. Zudem betrachten Japan und Indien Thailand seit langem als Bollwerk der Demokratie in einer Nachbarschaft, wo einige Regime – Kambodscha und Laos – fest unter dem hegemonialen Einfluss Chinas stehen. Tatsächlich hat sich Thailands Regierung als starker Unterstützer des Präsidenten von Myanmar, Thein Sein, bei dessen Versuch erwiesen, sein Land aus der Umklammerung durch China zu befreien.
Doch indem sie abseits stehen, während Thailands Opposition und traditionelle Elite versuchen, die Demokratie im Lande im Namen eines dauerhaften Rechts auf die eigene Herrschaft zu unterminieren, riskieren es Asiens Demokratien, einige Elemente des Thaksin-Lagers in die Arme Chinas zu treiben, das die Rolle als Schutzherr einer so starken politischen Kraft mit Vergnügen übernehmen würde.
Der Westen muss Einfluss nehmen
Aber dazu muss es nicht kommen. Thailands Militär unterhält lange und respektvolle Beziehungen nicht nur zum US-Militär, sondern auch zu Offizieren in Japan. Thailands Oppositionspolitiker, von denen viele an führenden westlichen Universitäten ausgebildet wurden, sind möglicherweise ebenfalls aufgeschlossen für den stillen Rat, dass sie die Dinge zu weit treiben und dabei nicht nur Thailands Stabilität gefährden, sondern auch die Sicherheit der Region.
Genau wie vor einem Jahrzehnt als der Westen Bemühungen der abgeschotteten weltlichen Elite der Türkei abwehrte, Recep Tayyip Erdoğans islamistisch angehauchter AKP ihres demokratischen Sieges zu berauben, muss sich der Westen heute eindeutig als Verteidiger der thailändischen Demokratie zu Wort melden. Die Behauptung der Opposition, sie handele im Interesse der Demokratien dieser Welt, darf so nicht stehen bleiben.
Thaksin mag kein Heiliger sein, und es wird gewisser Verfassungsreformen bedürfen, um eine politische Aussöhnung herbeizuführen. Aber Thaksins Regierungen – wie die seiner Schwester – haben den chinesischen Einfluss auf Abstand gehalten. Das ist der zentrale strategische Punkt, um den es derzeit geht.
Sollte Yingluck durch einen Putsch gestürzt oder die Demokratie des Landes zur Verhinderung ihrer Rückkehr an die Macht ausgehöhlt werden, bleibt den Shinawatras möglicherweise keine andere Wahl, als sich um die Unterstützung von Thailands riesigem Nachbarn im Norden zu bemühen. Wenn das passiert, werden wir alle wissen, wer den Verlust Thailands zu verantworten hat. Wir selbst.
Aus dem Englischen von Jan Doolan
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