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Bettina Kohlschrauch „Die Löhne müssen besser werden – nicht die Sozialleistungen schlechter“

Leerer Warteraum im Arbeitsamt Bremen
Leerer Warteraum im Arbeitsamt Bremen
© IMAGO / Cord
Kritiker des neuen Bürgergeldes fürchten fehlende Anreize zum Arbeiten. Laut Bettina Kohlrausch, Sozialforscherin an der Hans-Böckler-Stiftung, beruht diese Kritik allerdings auf falschen Grundannahmen

Die Kritik am Bürgergeld wirft grundsätzliche Fragen zur sozialen Sicherung auf. Dahinter steckt die Befürchtung, dass viele gar nicht mehr arbeiten würden, wenn ihnen andernfalls keine umgehenden, harten Sanktionen drohen und Empfänger von Sozialleistungen nicht finanziell erheblich schlechtergestellt sind als Arbeitnehmer etwa im Niedriglohnsektor. Ist das so?

BETTINA KOHLRAUSCH: Abgesehen davon, dass die Diskussion der vergangenen Tage auf falschen Zahlen beruhte, und es tatsächlich so ist, dass man in Deutschland mehr hat, wenn man arbeitet, als wenn man es nicht tut: Diese Forderung nach ständigem Druck auf Leistungsempfänger beruht auf der Annahme, dass Menschen nur wegen des Geldes arbeiten gehen. Arbeit ist aber viel mehr. Die Menschen wollen arbeiten, weil Teilhabe, Anerkennung, Integration in die Gemeinschaft und vieles mehr in unserer Gesellschaft weitgehend auf der Erwerbsarbeit beruhen. Es gibt natürlich Ausnahmen, in denen Arbeit das nicht bietet, etwa aufgrund der teils entwürdigenden Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie. Wenn solche Arbeit auch noch schlecht bezahlt wird, ist sie natürlich unattraktiv. Um das zu ändern, müssen aber doch Löhne und Arbeitsbedingungen verbessert werden und nicht Sozialleistungen verringert! Das ist noch eine völlig inhumane Logik!

Die Diskussion dreht sich viel um Sanktionen, für Leistungsempfänger, die nicht aktiv genug nach Arbeit suchen oder zumutbare Arbeitsangebote nicht annehmen. Ist die Androhung von Leistungskürzungen ein effektives Mittel, um Menschen zur Suche und Aufnahme von Arbeit zu bewegen? 

Ich kenne zumindest keine Studie, die die Wirksamkeit von Sanktion gegen Leistungsempfänger belegt. Im Gegenteil: Der Entzug von Leistungen von Leistungen, die ja ohnehin kaum ein Existenzminimum abdecken, ist entwürdigend. Dadurch wird eher weniger Kooperation mit der Arbeitsagentur erreicht. Zudem sind diese Sanktionen ineffizient, da sie viele Kapazitäten bei den Agenturmitarbeitern binden. Diese Kapazitäten könnten besser für die individuelle Förderung der Arbeitssuchenden eingesetzt werden, um ihnen zu helfen, die tatsächlichen Hindernisse zu überwinden, die sie an der Arbeitsaufnahme hindern.

Was sind das für Hindernisse?

Insgesamt ist ja Massenarbeitslosigkeit überhaupt kein Problem derzeit, sondern im Gegenteil der Fachkräftemangel. Trotzdem gibt es eine Gruppe von Langzeitarbeitslosen, die es nicht in den Arbeitsmarkt schafft. Die Probleme dieser Menschen sind individuell und psychosozialer Natur. Ohne Unterstützung können sie oft keine Arbeit aufnehmen. Druck hilft da genauso wenig wie einem Gelähmten mit Strafe zu drohen, weil er nicht läuft. 

Dieser Druck soll beim neuen Bürgergeld zunächst wegfallen. Im ersten halben Jahr des Bezugs sollen keine Sanktionen drohen, und das Schonvermögen, das die Empfänger behalten dürfen, wird deutlich erhöht. Kritiker sprechen von einem „fatalen Signal“, das den Betroffenen suggeriere, sie könnten sich erst einmal ausruhen. 

Im Gegenteil! Der Verlust einer Arbeit ist ein einschneidendes Erlebnis, weil damit ein Verlust von Teilhabe und sozialer Integration einhergeht. Das ist für die allermeisten ausreichende Motivation, um schnellstmöglich einen neuen Job zu suchen. Eine solche Schonfrist sendet ein sehr wichtiges Signal aus, nicht nur an die Betroffenen, sondern auch an alle, die die sich vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes fürchten. Es ist in Zeiten des Wandels, multipler Krisen und damit großer Unsicherheit ein Schutzversprechen des Staates: Auch wenn du in dieser Krise deinen Job verlierst, muss du nicht sofort um deine Wohnung, dein Erspartes fürs Alter fürchten. Das schafft ein Grundvertrauen, das wichtig ist für den Wandel von Gesellschaft und Wirtschaft. Wenn dieses Vertrauen in den Staat abhandenkommt, bekommen wir viel größere Probleme als ein paar Leistungsempfänger mehr oder weniger.

Dieser Artikel ist zuerst auf ntv.de erschienen. 

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