Der endgültige EU-Austritt Großbritanniens und seine wirtschaftlichen Folgen für das Vereinigten Königreich und die Staatengemeinschaft haben an öffentlicher Aufmerksamkeit eingebüßt – auch wegen der Corona-Pandemie. Einzelhandel, Tourismus und Gastronomie sind nahezu zum Erliegen gekommen und auch viele Fabriken arbeiten nicht auf Vollast. „Aktuell werden die negativen ökonomischen Effekte aber von der Corona-Krise überlagert“, bestätigt auch eine Studie der Landesbank Baden-Württemberg. „Britische Exporteure bekommen zudem derzeit keinen Rückenwind durch ein schwaches Pfund.“
Viele Unternehmen können die Post-Brexit-Realität dagegen kaum ignorieren. Wer Waren vom europäischen Festland bezieht oder sie dorthin transportieren will, muss diverse Hürden übrwinden. Zollformulare, Genehmigungen, Nachweise über die Herkunft von Waren, die Einhaltung spezieller Auflagen für den Import und deren Kontrolle sind nur einige von ihnen.
Das hat Folgen: Laut einer Umfrage von Make UK, einem Verband der produzierenden Industrie des Vereinigten Königsreiches, erleben rund drei von vier Unternehmen seit dem Ende der Übergangsphase Verzögerungen und Unterbrechungen im Handel mit der EU. Mehr als die Hälfte der Befragten berichtete außerdem von höheren Kosten, ein Drittel beklagte Umsatzverluste.
So trifft der Brexit Großbritanniens Branchen
Die britische Handelsbilanz zeichnet ein ähnliches Bild. Der Statistikbehörde zufolge brachen die britischen Exporte in die EU von Dezember bis Januar um knapp 41 Prozent, die Importe um 29 Prozent ein – das entspricht insgesamt 12,2 Mrd. Pfund. Zwar sei diese Entwicklung auch den corona-bedingten Lieferschwierigkeiten geschuldet, der Handel außerhalb der EU macht allerdings einen deutlich geringeren Anteil aus. Zum Vergleich: Der Export außerhalb der EU nahm im Januar um 1,7 Prozent zu – die Importe sanken um knapp 13 Prozent.
Monatliche Exporte aus Großbritannien (in Mio. Pfund)
source: tradingeconomics.com
Die Einschnitte in den einzelnen Sektoren der britischen Wirtschaft sind noch höher. Vereinzelt haben Unternehmen daher bereits begonnen, Teile der Produktion auf das europäische Festland zu verlagern, darunter auch einige Lebensmittelproduzenten und Pharmaunternehmen.
So geht es der britischen Wirtschaft nach drei Monaten Brexit

Rund ein Drittel aller Lebensmittel im Vereinigten Königreich stammen aus der EU. Die Landwirtschaft verzeichnet für Lebensmittel und lebende Tiere ein Export-Minus von ca. 59 Prozent (auf 323 Mio. Pfund) im Vergleich zum Vorjahresmonat. Der britische Verband der Lebensmittel- und Getränkehersteller geht für die Lebensmittelindustrie von einem noch höheren Exportrückgang im EU-Geschäft aus. Dem Verband zufolge verzeichneten die Hersteller im Januar ein Minus von 75 Prozent, in einige Länder wie Deutschland und Italien gingen die Exporte sogar um 80 Prozent zurück. Auch bei einzelnen Lebensmitteln wird der Brexit-Effekt besonders deutlich. Bis zum 31. März galten vereinfachte Kontrollen bei Lebensmittellieferungen aus der EU nach Nordirland, Anfang März verlängerte Großbritannien diese einseitig bis Ende Oktober. Trotzdem klagen viele britische Unternehmen über die komplizierten und teils unmöglichen Transporte – teilweise blieben auch Supermarktregale leer.

Lange galt London als das Finanzzentrum Europas, mit dem Brexit hat die Hauptstadt allerdings an Bedeutung eingebüßt. Als größter Aktienhandelsplatz Europas hat Amsterdam der Stadt den Rang abgelaufen. Ein Grund für diese Verschiebung: Im Handelsabkommen mit der EU bleibt der britische Finanzsektor weitestgehend außen vor – deshalb gelten für Großbritannien seit dem 1. Januar dieselben Regelungen wie für Drittstaaten. Die Finanzbranche hat die möglichen Folgen des Brexits schon weit vor dem endgültigen EU-Austritt zu spüren bekommen. Zwischen dem Referendum 2016 und dem Ende der Übergangsphase haben etwa 1,2 Billionen Pfund an Vermögenswerten und 7500 Arbeitsplätze London verlassen. Auch das Aktiengeschäft ist in seinem Handelsvolumen um 5,6 Mrd. Pfund auf 7,4 Mrd. Pfund geschrumpft.

Die britische Fleischindustrie bekommt die Folgen des Brexit mit am stärksten zu spüren. In den ersten sechs Wochen nach dem endgültigen EU-Austritt haben sich die Fleisch-Exporte halbiert. Wer Waren auf das europäische Festland transportiert, muss außerdem bis zu drei Tage mehr Zeit einplanen. Erste Unternehmen wie der britische Wurstproduzent Helen Browning’s Organic haben deshalb bereits von britischen auf dänische Zulieferer gewechselt. Die Branche rechnet zudem mit Exportverlusten zwischen einem Fünftel und der Hälfte der bisherigen Mengen. Auch finanziell wird der Handel mit der EU deutlich teurer. Der British Meat Processors Association zufolge könnte er die britischen Fleischproduzenten zwischen 90 und 120 Mio. Pfund pro Jahr kosten.

Auch die Autoindustrie leidet unter dem EU-Austritt. Im Januar verzeichnete der Branchenverband SMMT einen Produktionsrückgang von 86.000 Fahrzeugen. Das entspricht einem Minus von 27,3 Prozent im Vergleich zum Januar 2020. Bereits im vergangenen Jahr hatte der Corona-bedingte Stillstand der Produktion und die Unsicherheit vieler Hersteller angesichts der auslaufenden Übergangsphase die Autoproduktion gedrosselt. Seit Beginn der Pandemie im März 2020 hat die Branche einen Verlust von 11,3 Mrd. Pfund erlitten. Anders als andere Branchen konnten die Autobauer dabei bisher von einer Schonfrist bis Ende des Jahres profitieren. In dieser Zeit sind Autos und Autoteile von der Deklarationspflicht ausgenommen. Nach Angaben des SMMT macht die Autobranche etwas mehr als ein Zehntel der britischen Exporte aus.

Zwar hat die britische Fischerei nur einen Anteil von 0,1 Prozent an der britischen Wirtschaftsleistung, trotzdem waren die Verhandlungen rund um die Fischereirechte eine entscheidende Hürde bei der Einigung auf ein gemeinsames Abkommen. Auf den ersten Blick ist der Brexit für die Branche ein Erfolg. Nach Angaben der britischen Regierung sollen die Fangquoten für britische Fischer bis 2026 auf etwa ein Viertel der EU-Quoten in britischen Gewässern ansteigen. Das entspricht einem finanziellen Plus von 146 Mio. Pfund. Die Umstellung nach den endgültigen Austritt macht sich aber auch in der Fischerei bemerkbar. Allein im Januar sind die Exporte um 79 Prozent gesunken und beliefen sich lediglich auf 5,3 Mio. Pfund. Die Lachs-Exporte in die EU brachen sogar um 98 Prozent ein – und umfassten lediglich einen Gegenwert von 500.000 Pfund.

Die Pharmaindustrie ist der drittgrößte Industriezweig Großbritanniens und trägt nach Angaben der Association of the British Pharmaceutical Industry durchschnittlich 13,8 Mrd. Pfund pro Jahr zur nationalen Bruttowertschöpfung bei. Bereits im Oktober 2020 hatte die britische Regierung die Branche daher aufgefordert in Anbetracht der auslaufende Übergangsphase mit Medikamenten- und Wirkstoffvorräten vorzusorgen. Der britischen Statistikbehörde zufolge hat das auch Spuren in den Handelszahlen hinterlassen – auch wenn diese im Vergleich zu Corona-bedingten Lieferengpässen und -schwierigkeiten deutlich niedriger ausfallen. Während die Exporte im Januar 2021 um 57,3 Prozent zurückgingen, sanken die Importe um 62,6 Prozent. Letztere lassen sich dabei vor allem auf einen Rückgang der Importe aus den Niederlanden, aus Deutschland und Belgien – ein Anteil von 76 Prozent – zurückführen. Der Pharmaverband fürchtet außerdem, dass die von der EU veranschlagte Chargenprüfung für britische Medikamente die Lieferung von Waren um durchschnittlich sechs Wochen verzögern und pro Charge 1500 Pfund kosten könnte.