Laut einem neuen Bericht der gemeinnützigen Organisation Carbon Market Watch führen Europas führende Fluggesellschaften die Verbraucher mit der Behauptung in die Irre, sie könnten ohne schlechtes Gewissen fliegen, indem sie die Umweltauswirkungen von Flugreisen durch die Nutzung von Kohlenstoffkompensationen neutralisieren.
Abgesehen von einem vorübergehenden Rückgang während der Coronapandemie sind die Emissionen der Fluggesellschaften in den letzten zwei Jahrzehnten stetig gestiegen und könnten sich bis 2050 verdreifachen, wenn sie nicht eingedämmt werden. Weltweit verursacht die Branche rund eine Milliarde Tonnen CO2 pro Jahr – vergleichbar mit den Emissionen Japans, der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt.
Minderwertige Kompensationen
Um das Gewissen der Reisenden zu beruhigen, haben sich die Fluggesellschaften zum Ausgleich von CO2-Emissionen entschieden, indem sie ihre Unternehmensinvestitionen vermarkten und die Passagiere dazu ermutigen, Kompensationen für ihre eigenen Flüge zu kaufen. Diese freiwilligen Bemühungen funktionieren laut Carbon Market Watch jedoch nicht, da die Fluggesellschaften auf billige, minderwertige Kompensationen zurückgreifen, bei denen nicht sichergestellt ist, dass Emissionen an anderer Stelle reduziert werden.
Die Schlussfolgerungen basieren auf einer Studie des Öko-Instituts, die den Umfang und die Qualität der Emissionsminderungsmaßnahmen der acht größten Fluggesellschaften in Europa von Mai bis Juli bewertet hat: Air France, British Airways, Easyjet, KLM, Lufthansa, Ryanair, SAS und Wizz Air. Zusammen sind sie für mehr als die Hälfte der gesamten CO2-Emissionen des EU-Luftfahrtsektors im Jahr 2019 verantwortlich.
Die Studie ergab, dass fast alle untersuchten Fluggesellschaften auf Ausgleichszahlungen für kostengünstige Forstprojekte in Entwicklungsländern setzen, die langfristig gesehen fragwürdig sind. Bäume können verbrennen, absterben oder abgeholzt werden, wenn sich die politischen Rahmenbedingungen ändern. Ihre Funktion als CO2-Speicher wird in einem solchen ins Gegenteil verkehrt. Möglicherweise stehen die Wälder gar nicht lange genug, um den ausgestoßenen Kohlenstoff wirklich auszugleichen.
„Während die Fluggesellschaften nicht für ihre Umweltverschmutzung zahlen, senden sie irreführende Signale der Klimaneutralität an ihre Kunden, indem sie Kohlenstoffkompensationen von schlechter Qualität kaufen“, sagte Daniele Rao, Experte für Dekarbonisierung in der Luftfahrt und Schifffahrt bei Carbon Market Watch. „Diese schlechte Praxis muss ein Ende haben.“
Strengere Auflagen gefordert
Die Emissionen des Luftverkehrs werden im Rahmen des EU-Emissionshandelssystems reguliert, das derzeit überarbeitet wird. Nach Ansicht von Carbon Market Watch sollte die EU den Geltungsbereich auf alle Flüge ausweiten, die im Europäischen Wirtschaftsraum starten und landen, und nicht nur auf die Flüge innerhalb der Zone. Die EU sollte außerdem von den Fluggesellschaften „klare und vollständige“ Angaben zu ihren Kohlenstoffkompensationen und anderen freiwilligen Klimaschutzmaßnahmen verlangen, irreführende Werbung verbieten und Leitlinien für informative Angaben herausgeben, so die gemeinnützige Organisation.
Easyjet verteidigte seine Umweltmaßnahmen. „Easyjet unternimmt echte und bedeutende Schritte zur Dekarbonisierung unseres Betriebs, wie zuletzt durch unsere im letzten Monat veröffentlichte Netto-Null-Roadmap gezeigt wurde, die darlegt, wie wir durch eine Kombination aus Flottenerneuerung, betrieblicher Effizienz, nachhaltigem Flugkraftstoff, kohlenstofffreier Technologie und Kohlenstoffabbau bis 2050 zu Netto-Null-Emissionen gelangen können“, hieß es in einer Erklärung.
Sowohl Easyjet als auch Ryanair stimmten mit Carbon Market Watch darin überein, dass das Regulierungssystem alle Flüge einschließen sollte, die in Europa ankommen und von dort abfliegen. „Dies würde bedeuten, dass die reichsten Passagiere auf den umweltschädlichsten Langstreckenflügen endlich ihren gerechten Anteil an den ETS-Umweltsteuern zahlen würden“, erklärte Ryanair und wies darauf hin, dass Kurzstreckenflüge innerhalb der EU weniger als die Hälfte der Luftverkehrsemissionen in der Region ausmachten.
Lufthansa schweigt
Sowohl British Airways als auch Air France erklärten, sie konzentrierten sich auf eine Reihe von kurz- und langfristigen Maßnahmen zur Verringerung des Kohlenstoffausstoßes und zur Steigerung der Energieeffizienz und betrachteten Kohlenstoffkompensationen als Ergänzung. „Die Priorität von Air France besteht darin, die Treibhausgasemissionen so schnell wie möglich zu reduzieren, vor allem die, die direkt durch unseren Betrieb entstehen“, so die Fluggesellschaft. „Maßnahmen zur Kompensation von Treibhausgasemissionen kommen hinzu.“ Wizz und Lufthansa antworteten nicht auf Bitten um Stellungnahmen.
Im Juni wurde die Fluggesellschaft KLM von niederländischen Umweltgruppen verklagt, die der Airline vorwerfen, mit ihrer Werbekampagne „Fly Responsibly“ Greenwashing zu betreiben. Im April entschied die niederländische Werbeaufsichtsbehörde, dass die KLM-Werbung irreführend sei, wonach ihre Kunden emissionsfrei fliegen könnten.
KLM widersprach der Behauptung der Studie, dass ihre Kompensationsprojekte von geringer Qualität seien. „Wir unternehmen alle Anstrengungen, um sicherzustellen, dass dies nach dem höchstmöglichen Standard geschieht“, hieß es in einer Erklärung. „Bei KLM verwenden wir nicht mehr die Behauptung ,klimaneutrales Fliegen', und wir haben unsere Kommunikation über unser Kundenprodukt Klimaschutz und nachhaltiger Flugkraftstoff präzisiert, weil wir es für wichtig halten, die Auswirkungen des Fliegens transparent darzustellen.“
Die Autoren der Studie des Öko-Instituts erklärten, dass sie sich auf Schätzungen stützen mussten, da die Fluggesellschaften sowohl in ihren öffentlichen Berichten als auch bei der Beantwortung von Fragen nur unzureichende Informationen zur Verfügung gestellt hätten. Ihren Untersuchungen zufolge waren die von den Fluggesellschaften und ihren Kunden gezahlten Kompensationspreise zu niedrig, um eine nennenswerte Verringerung der Emissionen zu erzielen.
Carbon Market Watch bezeichnete es als eine „billigere und bequemere Alternative, die keinerlei Veränderungen an der Arbeitsweise oder dem Geschäftsmodell erfordert“. Stattdessen würden Fluggesellschaften, die klimaneutrales Fliegen propagieren, „weiteres Wachstum im Flugverkehr begünstigen, obwohl wir eigentlich weniger fliegen sollten“.
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