Man könnte meinen, dass die Fakten nach der russischen Militärintervention auf der Krim ziemlich klar sind: Wladimir Putin drohte, die Kontrolle über ein Nachbarland zu verlieren, schickte seine Soldaten los, die vorübergehend so tun müssen, als seien sie Freischärler und kassierte die Krim ein. Nun überlegt er, ob er auch in den Rest der Ukraine vorstoßen soll oder ob dafür angesichts der Passivität der dortigen Regierung eh noch genügend Zeit ist. Einen eindeutigeren Verstoß gegen das Völkerrecht kann es kaum geben.
Was aber lesen wir in deutschen Zeitungen? Der Kolumnist eines großen Wochenmagazins schreibt, für den Konflikt in der Ukraine trage „die EU die Verantwortung, nicht Russland“. Eine konservative deutsche Tageszeitung sieht ein „Unverständnis des Westens für Russland“ am Werk. Und natürlich ist auch der als Ex-Kanzler verkleidete Gazprom-Lobbyist Gerhard Schröder dabei und konstatiert „schwere Fehler“ der Europäer im Umgang mit der Region.
Die Grundidee: Ein Angriff auf die EU funktioniert immer und garantiert Applaus. Doch der Vorwurf, die Gemeinschaft oder auch "der Westen" habe den Konflikt in der Ukraine befördert, ist merkwürdig und hat mit den tatsächlichen Ereignissen nichts zu tun.
Beginnen wir mit der Kritik, die russischen Sicherheitsinteressen seien bei der Annäherung der Ukraine an den Westen nicht beachtet worden – geäußert unter anderem vom SPD-Altvorderen Erhard Eppler. Dieser Vorwurf wirkt, als hätten die letzten sechs Jahre nicht stattgefunden. Zwar gab es Pläne, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, aber diese Idee wurde gerade mit Rücksicht auf Russland längst aufgegeben. 2009 rang sich die EU dann 2009 zu einem Programm namens „Östliche Partnerschaft“ durch, das an Harmlosigkeit nicht zu überbieten war. Ziele waren eine Stärkung des Rechtsstaats in der Region, engere wirtschaftliche Zusammenarbeit und mehr Demokratie. Es mag sein, dass schon diese Vorstellung der russischen Machtelite Angst einflößt, aber wer behauptet, ein derartiges Programm gefährde Russlands Sicherheit, der ist der Kreml-Propaganda auf den Leim gegangen.
Ohnehin geht es oft, wenn von "russischen Interessen", "russischem Selbstwertgefühl" und ähnlichen fürsorglich wahrgenommenen Problemen die Rede ist, im Grunde um das Befinden der Kreml-Führung. Die Menschen in Land und vor allem die Mittelschicht in den russischen Großstädten haben völlig andere Probleme. Sie können - wie Umfragen zeigen - sehr gut verstehen, warum viele Ukrainer sich von Moskau verabschieden wollen.
Russland hat das „Entweder-oder“ etabliert
Die zweite, gängige Analyse lautet, das Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine hätte die Interessen Russlands und damit dessen geplante Zollunion für die Region berücksichtigen müssen. Das „Entweder-oder“ habe Moskau unnötig in die Enge getrieben. Das ist nun schon fast ahistorisch. Eine Annäherung zwischen Ukraine und EU gibt es bereits seit Mitte der 90er-Jahre, über ein Assoziierungsabkommen wurde spätestens seit 2004 konkret verhandelt. Es war immer klar, dass diese Kooperation auch in ein Freihandelsabkommen münden würde.
Die Eurasische Union des Kremls hingegen ging erst Ende 2011 an den Start und sie wurde gezielt so gestaltet, dass sie andere Bündnisse ausschloss. Sie war der klare Versuch, die Pläne der EU zu hintertreiben und die Länder der Region in die eigene Einflusszone zurück zu treiben. Es war Russland, das hier das Prinzip „Entweder-oder“ etablierte.
Und schließlich die Entscheidung des nun geflohenen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch, das Assoziierungsabkommen nicht zu unterschreiben. Es gab keine EU, die daraufhin ihre Lobbyisten losschickte oder eine Welle des diplomatischen Drucks erzeugte. Im Gegenteil. Ende November vergangenen Jahres hatte man die Ukraine in Brüssel de facto aufgegeben. Es waren die Bürger der Westukraine und das Kiewer Bildungsbürgertum, die daraufhin die blanke Panik packte. Ihnen wurde klar, dass sie und ihre Kinder damit dem von Geheimdienstleuten, korrupten Beamten und ineffizienten Staatsunternehmen dominierten Russland ausgeliefert würden. Und dagegen gingen sie mit einer Wut und Ausdauer auf die Straße, die auch die EU-Vertreter völlig überrumpelte. Sie forderten ihren Anteil an dem Freiheitsversprechen von 1989 ein. Wenn Europa hier eine Macht übersehen hatte, dann war es nicht die Russlands, sondern die der nach einem Rechtsstaat hungernden Ukrainer.
EU-Außenminister haben Leben gerettet
Erst als Janukowitsch die Demonstranten auf dem Maidan zusammenschießen ließ und damit einen der schwärzesten Momente der jüngeren Geschichte Europas heraufbeschwor, kamen die Außenminister Polens, Deutschland und Frankreichs nach Kiew. Es wurde ein Abkommen über eine Übergangsregierung, die Rückkehr zur alten Verfassung und Neuwahlen getroffen, das schon am nächsten Tag keine Rolle mehr spielte, denn der Präsident hatte die Stadt mitsamt seiner Kamarilla verlassen. Prorussische Kritiker sagen nun, die Europäer hätten auf dem Vertrag zwischen Janukowitsch und den Oppositionsführern bestehen müssen. Nur so wäre ein geregelter Übergang in der Ukraine möglich gewesen.
Doch abgesehen davon, dass ein Vertragspartner davon gelaufen war: Es ging an diesem Tag gar nicht um eine langfristige Lösung für die Ukraine. Es wäre vermessen zu glauben, dass dies überhaupt möglich gewesen wäre. Auf dem Unabhängigkeitsplatz waren innerhalb von 48 Stunden mindestens 77 Menschen durch Schüsse von Scharfschützen gestorben. Alles sprach dafür, dass der nächste Schritt ein Armeeeinsatz mit dann vielleicht Hunderten von Toten gewesen wäre. Der Besuch der Minister war ein Feuerwehreinsatz in höchster Not, dessen Ziel es war, Menschenleben auf dem Maidan zu retten. Und dieses Ziel hat er erreicht.
Russlands Rolle hingegen bestand durchgehend darin, die Lage in der Ukraine zu destabilisieren und jede Chance für eine Deeskalation zu untergraben. Nicht einmal das Kiewer Abkommen, dessen Einhaltung Moskau nun einfordert, hatte der Vertreter des Kremls unterschrieben. Als die neue Übergangsregierung im Amt war, weitete der Kreml seine Taktik der Eskalation noch aus und verleibte sich ganz offen die Krim ein.
Es ist bei allen ihren Schwächen nicht die EU, die hier versagt hat. Diese Krise geht auf das Konto Russlands.