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Ghosn-Verhaftung Renault und Nissan auf Kollisionskurs

Carlos Ghosn hat die Allianz zwischen Renault und Nissan geschmiedet
Carlos Ghosn hat die Allianz zwischen Renault und Nissan geschmiedet
© dpa
Wer hält die Allianz zwischen Nissan und Renault nach der Verhaftung von Carlos Ghosn zusammen? Nach dem Sturz des Konzernlenkers wird deutlich, dass es gewaltig knirscht zwischen Franzosen und Japanern

Am Montagmorgen vergangener Woche versammelten sich in einer Halle im Herzen von Tokios Finanzzentrum rund 600 führende Persönlichkeiten aus Industrie, Politik und Wissenschaft zu einem üppigen Fest. 100 Jahre Handelsbeziehungen zwischen Japan und Frankreich wurden gefeiert.

In Anwesenheit von Top-Managern von LVMH, Airbus, Dassault und Veolia kamen die Hauptredner vom ultimativen Symbol der französisch-japanischen Zusammenarbeit – der Allianz zwischen Renault und Nissan. Zuerst sprach Nissan-Chef Hiroto Saikawa dann der Ehrenvorsitzende von Renault, Louis Schweitzer – der 78-jährige ehemalige Konzernlenker, der die Nissan-Rettung durch das französische Unternehmen im Jahr 1999 initiiert hatte.

Beide Redner wissen, dass die Allianz hinter den Kulissen in Schwierigkeiten steckt, zwischen Kontrollambitionen von französischer Seite, brodelnden Ressentiments in Japan und einer Führungspersönlichkeit, die in dem riesigen Weltkonzern offenbar ein persönliches Lehen sieht.

„Sie haben gerade Caesar ermordet“

Doch nur einer der beiden Männer auf dem Podium wusste von der Bombe, die an diesem Nachmittag explodieren würde – teilweise von Nissan orchestriert. Die Schockwellen der Detonation sind überall in der globalen Automobilbranche zu spüren: die Verhaftung von Carlos Ghosn auf einem Tokioter Flughafen – der Ikone der französisch-japanischen Beziehungen. Am Donnerstag wurde Ghosn vom Nissan-Vorstand als Verwaltungsratschef abgesetzt.

„Sie haben gerade Caesar ermordet“, sagt CLSA-Japan-Analyst Christopher Richter. „Es ist schwer vorstellbar, wie das Zusammenleben nun funktionieren soll. Ohne den Steuermann Ghosn, dessen Steuerkünste die beiden Schiffe vor Kollisionen bewahrte, könnte es jetzt zu gefährlichen Zwischenfällen kommen.“

Es lag nahe, dass Ghosn am Montag im Mittelpunkt der Veranstaltung stand: Er war es, den Schweitzer vor 17 Jahren als CEO von Nissan eingesetzt hatte. Er wurde nicht nur zum Symbol dieser Unternehmensallianz, zu der auch Mitsubishi Motors gehört, sondern auch zu einem Symbol für eine mutige mit der Tradition brechenden neuen Ära ausländischen Managements in einem japanischen Unternehmen.

Als Saikawa seine optimistische Rede hielt, wusste er, dass Ghosn – sein Vorgesetzter und Mentor, der Mann, dessen Äußerungen er genau studiert hatte und dem er seine Position verdankt – in der Luft zwischen Beirut und Tokio auf dem Weg zu seinem Untergang war. Ghosn hatte keine Ahnung von dem Hinterhalt, der auf ihn wartete – und auch bei Renault war niemand eingeweiht. Hätten sie das getan, sagte eine Ghosn nahestehende Person, „wäre er nie in das Flugzeug gestiegen“.

„Verzweiflung, Frustration und Empörung“

Ghosn hatte nie vorgehabt, an der Jubiläumsveranstaltung teilzunehmen. Stattdessen wollte er mit seiner Tochter in Tokio zum Abendessen gehen. Er saß an Bord des Privatjets der Unternehmensallianz mit der Flugnummer NI55AN – ein Flugzeug, das er nach Ansicht ehemaliger Führungskräfte längst als sein Eigentum betrachtete. Das sei Teil seines Verhaltensmusters in den zwei Jahrzehnten an der Unternehmensspitze geworden, fügten sie hinzu. Daher sei es auch kaum möglich, gegen den Rauswurf Ghosn zu stimmen, sagte eine Person, die mit den Einzelheiten der Dringlichkeitssitzung am vergangenen Donnerstag vertraut war.

Die japanischen Behörden verhafteten Ghosn wegen des Verdachts, sein Gehalt über fünf Jahre hinweg um 44 Mio. Dollar zu niedrig angegeben zu haben. Der in Brasilien geborene Ghosn, dessen Familie aus dem Libanon stammt, soll eine Tochtergesellschaft in den Niederlanden benutzt haben, um für sich Wohnungen in Beirut und Rio de Janeiro zu kaufen. Auch Fragen zu einem Beratungsvertrag zwischen Ghosns älterer Schwester und Nissan über 100.000 Dollar pro Jahr tauchten auf. Es gebe keine Hinweise, dass die Schwester eine Leistung für das Geld erbracht habe, sagte eine Person, die mit den Ergebnissen einer internen Untersuchung Nissans vertraut ist. Diese Erkenntnisse seien der japanischen Staatsanwaltschaft übergeben worden. Ghosn stehe zudem im Verdacht, einen Teil der Vergütung anderer Vorstandsmitglieder von Nissan für sich abgezweigt zu haben, sagte die Person weiter.

Am Montagabend, nach dem die Verhaftung Ghosns durchgedrungen und in einen Empfang des französischen Botschafters geplatzt war, gab Nissan-Chef Saikawa eine Pressekonferenz. Er nutzte die Gelegenheit, um Ghosn auszuweiden, kritisierte die Folgen seiner langen Amtszeit und beschrieb seine eigenen Gefühle als Mischung aus „Verzweiflung, Frustration und Empörung“.

Journalisten waren informiert

Nach der Landung der Maschine auf dem Flughafen Haneda seien japanische Staatsanwälte an Bord gegangen, die Ghosn drei Stunden lang festhielten. So berichten es Personen, die über die Vorgänge Bescheid wussten. Im Tokioter Stadtteil Moto-Azabu wurde die Wohnung von Herrn Ghosn durchsucht, und in Yokohama besuchten Staatsanwälte die Zentrale von Nissan. Das alles ist schon außergewöhnlich genug, aber noch bemerkenswerter war, dass sich auch Journalisten einer japanischen Zeitung auf dem Rollfeld einfanden, die vorher umfassend informiert worden waren.

Die Schlussfolgerung – dass entweder Staatsanwälte oder Nissan Teile der japanischen Medien ins Bild gesetzt hatten – war für viele Beobachter der erste Hinweis darauf, dass der Ghosns Untergang Teil einer geplanten Abfolge von Ereignissen mit einer klaren Agenda war.

Die Tatsache sei sehr bedeutsam, dass es der letzte geplante Besuch des Renault-Nissan-Chefs in Japan vor Februar nächsten Jahres sein sollte, sagte eine Ghosn nahestehende Person. Sie zeige, wie groß die Distanz zwischen Ghosn und der Nissan-Zentrale geworden sei. Das dürfte auch die Staatsanwälte davon überzeugt haben, dass dies ihre letzte Chance war, gegen den Automanager vorzugehen.

Das Gefühl eines sich zuziehendes Netzes erschütterte auch die Begleiter Ghosns: Zwei, die häufig in seiem Gefolge reisen, verließen Japan innerhalb weniger Stunden nach der Verhaftung, berichteten mehrere Quellen. In Paris gaben Renault und die französische Regierung ihr Bestes, um gute Miene zum bösen Spiel zu machen: Das Bündnis sei stark genug, um auch ohne Ghosn an der Spitze zu überleben. Von Verschwörungstheorien wollte man nichts wissen.

Viele offene Fragen

Als dann der neunköpfige Vorstand von Nissan am Donnerstag zusammenkam, verbrachten Saikawa und ein Mitarbeiter der Rechtsabteilung mehr als eine Stunde damit, die Vorwürfe gegen Ghosn zwei Renault-Direktoren in einer Videokonferenz zu erklären. „Die bisherigen Erkenntnisse sind erschreckend, aber sie sind nur ein Teil der ganzen Geschichte“, sagte eine dem Nissan-Vorstand nahestehende Person.

Viele Fragen nach seiner Verhaftung sind unbeantwortet, was zu Spekulationen einlädt. Befeuert werden sie von Stimmen innerhalb und außerhalb des Renault-Nissan-Bündnisses, die Mutmaßungen darüber anstellen, wer Ghosn hätte herausfordern können, wer verlieren wird und welches Maß an staatlicher Rückendeckung es für die verschiedenen Positionen gibt. Die Theorien münden meistens in die Schlussfolgerung, dass die Tage des Bündnisses in seiner jetzigen Form gezählt sind, und dass die vorhandenen Strukturen nicht mehr geeignet sind, die Gräben zuzuschütten.

Wer argumentiert, Ghosn sei gleichzeitig die Quelle der Spannungen und der Klebstoff für das Bündnis gewesen, hat nach dem Sturz des Patriarchen umso schwerer in die nahe Zukunft zu blicken. „Jahrelang beschützte Ghosn Nissan vor Renault. Für Saikawa ist das jetzt ein sehr großer Wurf. Sie verlassen sich jetzt darauf, dass die japanische Regierung sie schützt“, sagt ein früherer Nissan-Manager.

Nissan-Chef Saikawa bei seiner Pressekonferenz nach der Verhaftung Ghosns
Nissan-Chef bei seiner Pressekonferenz nach der Verhaftung Ghosns (Foto: dpa)
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Der Sturz Ghosns vollzieht sich vor dem Hintergrund einer Entwicklung, die seine Beziehungen zu Saikawa belastet haben. Der Japaner war einst ein treuer Schützling des Konzernlenkers, der erst im vergangenen Jahr die Leitung von Nissan übernommen hat. Während seiner Amtszeit musste der japanische Autobauer Gewinnrückgänge verkraften, weil die Geschäfte in den USA und China schlechter als erwartet liefen. Auf dem heimischen Markt machten Skandale um Fahrzeugtests und Spritverbrauchsmessungen Nissan zu schaffen. „Ghosn verzeiht es nicht, wenn Finanzziele verfehlt werden“, sagt ein Vertrauter Saikawas. Obwohl die Gruppe auch unter Ghosns Regime immer wieder Ziele ihre verfehlt hat.

„Das war der erste Schlag von Saikawa“, sagt eine ehemalige Führungskraft und stellt fest, dass Ghosn normalerweise die schlechte Ertragslage und die technischen Probleme, die das Unternehmen während Saikawas Amtszeit belasten, durch „eine Ablösung Saikawas“ gelöst hätte.

Frustrierte Japaner, mutige Franzosen

Personen, die mit Saikawa zusammengearbeitet haben, halten es für unwahrscheinlich, dass Ghosns Sturz vom japanischen CEO im Alleingang betrieben wurde. Im Laufe der Jahre ist die Frustration bei Nissan über die Allianz mit Renault gewachsen – vor allem als klar wurde, dass die Partnerschaft darauf abzielt, den schwächeren französischen Partner zu stärken. Ghosn soll eine Fusion von Renault und Nissan geplant haben, hieß es.

Nachdem Nissan Anfang der 2000er Jahre am Rand der Pleite stand, hat es den französischen Autobauer mittlerweile überflügelt. Nissans Gewinn trug mehr als die Hälfte zu Renaults Nettogewinn von 5,2 Mrd. Euro im vergangenen Jahr bei. Dennoch hält das französische Unternehmen 43 Prozent der Aktien und Stimmrechte von Nissan, verglichen mit dem 15-prozentigen nicht stimmberechtigten Anteil des japanischen Konzerns an Renault.

Seitdem Ghosn sich aus dem operativen Geschäft zurückgezogen hat, ist das französische Unternehmen auch im Umgang mit der Allianz mutiger geworden, was auf japanischer Seite für Verstörung gesorgt habe, sagen eine Reihe von Leuten.

Einige der deutlichsten Anzeichen für das wachsende Selbstvertrauen zeigen sich in Europa. Dort konkurrieren die beiden Marken direkt miteinander. Binnen eines Jahres nach der Ernennung Saikawas wurden mehrere Vorstandsmitglieder von Nissans Europatochter durch ehemalige Führungskräfte von Renault ersetzt. „Die Zeichen waren da, jeder wusste es“, sagt eine Person, die mit dem Geschäft vertraut ist.

Am Samstag saß ein Konzerntitan den fünften Tag in Folge in einer winzigen, spartanischen Zelle im „Tokyo Detention House“ – einem modernen, aber trostlosen Gebäude, in dem alle gleich behandelt werden und Ausnahmen nicht gemacht werden, auch nicht für Häftlinge, die mit einem Firmenjet ins Land gekommen sind.

Copyright The Financial Times Limited 2018

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