Um die Frage, wer Präsident der Europäischen Kommission werden soll, ist ein wahres Tauziehen entbrannt. Obwohl die mitte-rechts stehende Europäische Volkspartei eine knappe Mehrheit von 221 Sitzen im 751 Sitze umfassenden Europäischen Parlament errang, haben sich Abgeordnete des Mitte-Links-Lagers, der Grünen und Liberalen hinter den Kandidaten der EVP, Jean-Claude Juncker, als „legitimen“ Amtsanwärter gestellt. Die vom britischen Premierminister David Cameron angeführte und von „Souveränisten“ aus ganz Europa - insbesondere aus Skandinavien, aber auch aus Ungarn - unterstützte Opposition, wendet ein, dass jemand, den die Mehrheit der europäischen Bürger kaum kennt, keinerlei politische Legitimation für sich beanspruchen kann.
Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sitzt nun in der Klemme. Obwohl sie Juncker vor der Wahl unterstützt hat, freundete sie sich nie wirklich mit der Vorstellung an, dass das Europäische Parlament bei der Wahl des Kommissionspräsidenten ein gewichtiges Wort mitzureden hat. Sie war sich sicher, dass keine Partei eine absolute Mehrheit erringen werde, ahnte allerdings nicht, dass beinahe alle Vertreter der gemäßigten Parteien jenen Kandidaten unterstützen würden, der bei den Wahlen eine Mehrheit erreicht. Dadurch wird es schwierig, jemand anderen zu ernennen.
Ohne vertiefte Zusammenarbeit geht es nicht
Die übergeordnete Frage lautet, ob Europa einen gemeinsamen politischen Raum etablieren will, der zur Verwaltung der Währungsunion und zur Stärkung des EU-Einflusses in der Weltpolitik erforderlich ist.
Es herrscht Einigkeit unter den meisten Ökonomen, dass die Europäische Währungsunion ohne eine zunehmende fiskalpolitische Koordinierung und eine echte Bankenunion keinen Erfolg haben wird. Die Briten stört das wenig, weil sie der Eurozone nicht beitreten wollen. Unter den Mitgliedern der Eurozone wird die Notwendigkeit einer stärkeren politischen Integration nicht nur bei den wirtschaftlichen und politischen Eliten, sondern allgemein akzeptiert.
An den russischen Machtbestrebungen in der Ukraine und anderswo in der ehemaligen Sowjetunion zeigt sich zudem, dass die europäischen Länder ihre Sicherheitskooperation vertiefen und eine gemeinsame Energiepolitik entwickeln müssen. Und obwohl die Zusammenarbeit in Bereichen wie Datenschutz, Regulierung des Finanzsektors und Klimawandel möglicherweise nicht den gleichen Grad an politischer Integration erfordern wie eine gemeinsame Währung, würde diese Kooperation von einem stärkeren politischen Zusammenhalt und einem tieferen Gefühl einer gemeinsamen europäischen Identität enorm profitieren.
Rascher Kompromiss ist wünschenswert
Die Nominierung von Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten durch pan-europäische Parteien – und die drei direkten Debatten dieser Kandidaten – markierten den Beginn eines echten supranationalen politischen Raumes in Europa. Tatsächlich ist die Unterstützung der Sozialdemokraten, der Grünen und der Liberalen für Juncker Ausdruck ihrer Unterstützung für einen derartigen Raum. Beide Kandidaten, insbesondere der sozialdemokratische Spitzenkandidat Martin Schulz, führten ihren Wahlkampf über nationale Grenzen hinweg.
Doch Europa hat noch einen langen Weg vor sich. Dies wird an der Tatsache deutlich, dass nur eine Minderheit der europäischen Bürger den Wahlkampf verfolgte. Ein supranationaler politischer Raum kann sich nur entwickeln, wenn die europäische Politik an Sichtbarkeit, Einfluss und Glaubwürdigkeit gewinnt. Aus diesem Grund sollten die führenden Politiker in Europa rasch und in transparenter Weise einen Kompromiss im Streit um den nächsten Kommissionspräsidenten erzielen und so den Eindruck der Bürger zerstreuen, europäische Politik werde auf Grundlage eines dysfunktionalen Prozesses gestaltet, bei dem hinter den Kulissen politischer Kuhhandel betrieben wird.
Wie üblich kommt Kanzlerin Merkel eine entscheidende Rolle zu. Ihre Unterstützung für einen Kandidaten, von dem sie wusste, dass ihn Cameron vehement ablehnen würde, war ein schwerer Fehler, weil sie damit die Austrittswilligen in Großbritannien gestärkt hat.
Die Welt braucht eine einheitliche EU
Merkel muss nun festlegen, wie ein Kompromiss erzielt werden kann ohne den europaweiten demokratischen Prozess zu beschädigen, der gegenwärtig in Deutschland stärker unterstützt wird als in jedem anderen großen europäischen Land. Hilfreich wäre in dieser Hinsicht der Beistand des italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi – dessen Partei 41 Prozent der Stimmen errang, was ihn wohl zum einzigen wirklichen Wahlsieger auf nationaler Ebene macht.
Es steht viel auf dem Spiel – nicht nur für Europa. Die Welt braucht eine florierende, einheitliche EU, um demokratische Prinzipien zu fördern, Konfliktlösungen zu erleichtern, globale Gemeingüter zu schützen, den Frieden zu stärken und grenzüberschreitend Vertrauen aufzubauen. Die - bereits an Zugkraft gewinnende - Alternative ist die Wiederkehr nackter Machtpolitik und gefährlicher Fremdenfeindlichkeit. Ohne einen gemeinsamen politischen Raum in Europa wird es allen schlechter gehen.
Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier
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