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Energiekrise Preisschock an der Strombörse: Warum der Markt aus den Fugen gerät

Die Strompreise im Großhandel klettern auf immer neue Rekordhöhen
Die Strompreise im Großhandel klettern auf immer neue Rekordhöhen
© IMAGO / Eibner Europa
Strom wird gerade so teuer gehandelt wie nie. Die Börsen verbuchen ständig neue Rekorde. Warum entwickeln sich die Preise so – und was heißt das für Endverbraucher?

Ein Euro pro Kilowattstunde: Auf dieses Niveau stiegen die Preise für Strom am vergangenen Freitag in Deutschland. Die börsengehandelten Benchmark-Strompreise für das nächste Jahr brechen fast täglich neue Rekorde. Die Bundesregierung ist alarmiert und prüft, wie der Anstieg zu dämpfen ist. Ganz Europa befinde sich in einer „parallelen“ Krise, sagte ein Regierungssprecher. Die astronomisch hohen Gaspreise treiben die Stromkosten auf ein noch nie da gewesenes Niveau. Am Strommarkt habe sich „ein echter Sturm zusammengebraut“, sagt Simon Müller, Deutschland-Direktor des Thinktanks Agora Energiewende. Capital beantwortet die wichtigsten Fragen zur Strompreisexplosion:

Warum ist Strom so teuer geworden?

An der Strombörse spielen gerade einige Ursachen ineinander. In ganz Europa wird gerade weniger Strom produziert als sonst, weil die riesige Dürre etwa in ganz Südeuropa – in Italien, in Spanien, in Frankreich – dazu führt, dass weniger aus Wasserkraft gewonnen wird. Zugleich sind französische Atomkraftwerke in der Krise: knapp die Hälfte der AKWs sind derzeit nicht betriebsfähig – häufig auch, weil das Wasser für die Kühlung der Reaktoren zu warm ist oder ganz fehlt. Zudem gibt es langwierige Wartungen und Sicherheitsprobleme wegen Korrosionsrissen.

Dies hat zur Folge, dass Deutschland in diesen Wochen mehr Strom ins Ausland liefert. Neben Frankreich auch in die Schweiz, wo wegen der Dürre weniger Strom aus Wasserkraft gewonnen wird. Normalerweise wird der französische Atomstrom als Lückenfüller im deutschen Markt genutzt, jetzt ist es umgekehrt: Deutscher Strom muss die Lücken anderswo füllen. So kommt es, dass in diesem Sommer trotz Gaskrise deutlich mehr Gas zur Stromproduktion verfeuert wird als es eigentlich geboten wäre. Hinzu kommt, dass der Ausstieg aus Kohle- und Atomstrom in Deutschland die Kraftwerkskapazitäten gedrosselt hat. All diese Gründe ergeben zusammen: Um den Bedarf von Haushalten und Unternehmen zu decken, müssen auch in diesem Sommer Gaskraftwerke laufen – das treibt die Preise dramatisch.  

Wie bilden sich die Strompreise eigentlich?

Der Preis ergibt sich nach dem so genannten Grenzkostenprinzip, auch Merit-Order-Prinzip genannt. Kraftwerke verkaufen auf dem Großhandelsmarkt Strom an Versorger, die Endkunden beliefern. Jede Viertelstunde werden dabei neue Preise gebildet. Der Energieökonom Lion Hirth von der Hertie School of Governance in Berlin zieht eine Parallele zur Landwirtschaft: Wenn ein traditioneller Hof Weizen zu Kosten von 200 Euro pro Tonne produziere, ein großer Hof dagegen zu nur 50 Euro je Tonne, so würden am Ende beide den höchsten Preis einfahren, den der Markt hergibt – also den, den der Kunde zu zahlen bereit sei. Der teure Hof wolle über seinen Selbstkosten verkaufen, der günstigere Hof nehme den hohen Preis aber gerne mit, wenn Weizen gerade zu 200 Euro den Besitzer wechselt.

Ähnlich verhält es sich am Strommarkt: Hohe Gaspreise ziehen das Strompreisniveau automatisch nach oben. Wenn Gaskraftwerke gebraucht werden, die Kosten von 800 Euro pro Megawattstunde haben, setzen sie den Preis. Im Juli haben die Gaskraftwerke 4036 Gigawattstunden Strom erzeugt – 13,5 Prozent mehr als im Vorjahresmonat, wie aus dem Strommarktdatenportal Smard der Bundesnetzagentur hervorgeht. Und ihr Preis gilt dann für jede produzierte Kilowattstunde Strom, egal, wie sie erzeugt wurde. So einem System folgen in der Marktwirtschaft auch die Preise von gleichförmigen Produkten wie Milch, Erdöl, Kupfer oder Solarzellen.

Muss man deswegen den Strommarkt verändern?

Dass die Bundesregierung nun prüft, wie die Preise von Strom und Gas „entkoppelt“ werden können, wird von vielen als irreführend bezeichnet. Wenn der Strompreis so drastisch von den hohen Gaspreisen in Geiselhaft genommen werde, sei  das eine Folge des knappen Angebots, heißt es, und keine Fehlfunktion des Marktes. „Wir haben zu wenig Energie“, sagt etwa Lion Hirth. Es sei eine Krise der Marktversorgung. Und um die zu lösen, müsse mehr Energie bereitgestellt und weniger verbraucht werden. Diese Schieflage lasse sich nicht wegregulieren, so sein Fazit.

Forderungen nach einer Entkoppelung der Preise etwa von Wind-, Solar oder Wasserkraft von Rekordhöhen beim Gaspreis werden derweil aber auch von Brüssel und von Ländern wie Spanien, Italien oder Österreich unterstützt. Sie wollen eine Trennung in parallele Märkte.

Warum ist der Strompreis zuletzt stärker gestiegen als der Gaspreis?

Diese Entkopplung auf den deutschen Strommärkten gibt selbst Energieökonomen Rätsel auf. Der Preis für Strom stieg Ende vergangener Woche um mehr als die Hälfte über die Kosten der Gaskraftwerke. „Wenn die Strom-Futures über die Erzeugungskosten steigen, deuten die Märkte darauf hin, dass wir Zeiten erleben werden, in denen die Erzeugungskapazität knapp ist“, versuchte Hirth eine Erklärung. Bei solchen Erwartungen würden die Spotpreise auf ein extremes Niveau steigen, bis die Nachfrage  einknicke.

Wird der Preis noch weiter steigen?

Die Strompreise auf dem Terminmarkt haben sich laut Agora Energiewende im Vergleich zum Vorjahr verzehnfacht. „Hier sollte hoffentlich das Ende der Fahnenstange erreicht sein“, prognostiziert Simon Müller. „Aber ganz sicher kann man das natürlich nicht sagen.“ Ob der Preis wieder sinken wird, scheint indes auch fraglich. Experten sagen zwei schwierige Winter voraus. Einerseits dauert es, bis die von Russland gedrosselten Gasmengen ersetzt werden können. Diese Abhängigkeit muss abgebaut werden. Zugleich gerät der Strommarkt in eine Wetterabhängigkeit ­– in der etwa das niedrige Rheinwasser auch die Kosten für Kohle in die Höhe treibt, weil die Schiffe weniger laden können und häufiger fahren müssen – was wiederum die mögliche Stromproduktion einschränken wird. Hinzu kam in den letzten Wochen eine ziemlich ausgeprägte Windflaute, die ebenfalls die Preise hat steigen lassen.

Was kommt davon beim Verbraucher an?

Der Preis für eine Megawattstunde Strom zur Lieferung im kommenden Jahr schwankte zuletzt um die Marke von 1000 Euro. Das langjährige Mittel bewegte sich je Megawattstunde zwischen 35 und 55 Euro. Versorger können solche Preisspitzen zu einem gewissen Grad ausgleichen. Aktuell liegen die Stromkosten für einen Drei-Personen-Haushalt mit einem Jahresverbrauch von 4.000 kWh im bundesweiten Durchschnitt laut dem Vergleichsportal Verivox bei 1.832 Euro. Im Vergleich zum Vorjahr ist das ein Anstieg um etwa 51 Prozent. Der Durchschnittspreis liege bei fast 46 Cent pro Kilowattstunde bei einem Drei-Personen-Haushalt. Angesichts der immer neuen Rekorde an der Strombörse – ohne Netzentgelte, Stromsteuer, andere Umlagen und Mehrwertsteuer – geht man bei Verivox „von noch weiteren Preissteigerungen für die Haushalte aus“.

Was kann die Bundesregierung tun?

Die meisten Experten raten davon ab, den Markt zu regulieren. „Wir haben kein Problem mit dem Strommarkt. Der funktioniert im Prinzip prima“, sagt etwa Hirth und empfiehlt gezielte Entlastungen von Verbrauchern. Da einige Kraftwerksbetreiber, darunter auch Kohle, Atom, Solar oder Wind, so bezahlt werden, als hätten sie teures Gas eingekauft, fallen große Gewinne an. Die zusätzlichen Gewinne abzuschöpfen und an Bedürftige zu verteilen, findet inzwischen den Zuspruch vieler Ökonomen. Marcel Fratzscher, Präsident des DIW Berlin, fordert eine Übergewinnsteuer verbunden mit einem zielgenauen Energiegeld – dies sei „der einzige gangbare Weg, den Schaden der Krise zu begrenzen“. Streit gibt es darüber, wie das Geld an Verbraucher zurückgegeben werden kann.

Im Bundeswirtschaftsministerium will man derzeit an dem Prinzip, dass die teuren Gaskraftwerke den Preis auf dem Strommarkt bestimmen, gar nicht wirklich rütteln. Das erfordere in jedem Fall eine europäische Lösung, heißt es dort. Man wolle jedoch die damit verbundenen problematischen Effekte für die Stromkunden abfedern und die „übermäßigen Gewinne“ oder Mitnahmeeffekte, die aus der Dominanz der Gaspreise resultierten, an die Endkunden weitergeben. So soll eine Entlastung erreicht werden, ohne öffentliche Mittel einzusetzen – wie genau das geschehen soll, ist aber offen.

Wie sind die hohen regionalen Unterschiede beim Strompreis zu erklären?

Versorger decken einen Großteil ihres Bedarfs über langfristige Kaufverträge – zu unterschiedlichen Konditionen. Der regionale Wettbewerb zwischen den Stromanbietern ist ein Grund für die verschiedenen Preise. Die unterscheiden sich teilweise aber auch stark, weil die Netzentgelte sowie Steuern und Abgaben relevant sind. Die Netzentgelte, die in normalen Zeiten ein Viertel des Strompreises ausmachen, sind auch ein Grund dafür, dass Strom in Süd- und Westdeutschland gewöhnlich günstiger ist als in Nord- und Ostdeutschland. Auch eine Umlage an Kommunen, etwa für die Verlegung von Leitungen im öffentlichen Raum, variiert die Höhe des Grundpreises.

Ist es sinnvoll, jetzt den Stromanbieter zu wechseln?

Die Ausnahmesituation auf dem Gas- und Strommarkt herrscht bereits seit dem Herbst 2021, die Beschaffungspreise sind seitdem sehr hoch und steigen weiter. Viele Energieanbieter haben mit Preiserhöhungen reagiert, andere bieten keine Sondertarife für Neukunden mehr an. Das Angebot verfügbarer Tarife ist in der Folge geringer als vor der Gaspreiskrise. Die Verbraucherzentrale weist darauf hin, dass in einigen Städten momentan der Grundversorgungstarif der günstigste Tarif sei. Die Ersparnis beim Anbieterwechsel sei jedoch in vielen Regionen gering. „Es ist in der Regel schwierig, attraktive Tarife zu finden“, heißt es bei den Verbraucherzentralen. Um Konditionen und Laufzeitbindungen zu vergleichen, wird empfohlen, Schritt für Schritt das Kleingedruckte zu lesen.

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