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Kommentar Wunschzettel an die neue Bundesregierung

Wünschen kann man sich viel. Ökonom Frank Geilfuß hat vier Wünsche an eine neue Regierung.

Vor einer Bundestagswahl ist es üblich, sich als Analyst einer volkswirtschaftlichen Abteilung mit den Wahlprogrammen der Parteien auseinanderzusetzen und zu ergründen, welche der angekündigten Maßnahmen bei einer werturteilsfreien Analyse zu welchen volkswirtschaftlichen Effekten und Marktreaktionen führen könnten. Losgelöst von politischen Überlegungen und Präferenzen wollen wir Aspekte ansprechen, die nach unserer festen Überzeugung jede zukünftige Bundesregierung in Angriff nehmen müsste. Nicht, weil es politisch opportun erscheint, sondern weil es unter Zuhilfenahme einer hinreichenden Portion Sachverstand logisch zwingend geboten ist. So gesehen gleicht unsere Liste in gewisser Weise einem „Wunschzettel“ von Volkswirten, ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Ausgewogenheit.

#1 Mehr staatliche Investitionen

Der deutsche Staat gibt - gemessen am Bruttoinlandsprodukt - seit vielen Jahren nur einen sehr kleinen Anteil für Investitionen aus. Der Anteil liegt vergleichsweise konstant bei etwas mehr als zwei Prozent, während in anderen Ländern dieser Wert eher bei drei Prozent liegt. Auch relativ zu allen staatlichen Ausgaben fallen die staatlichen Investitionen in Deutschland mit etwa zehn Prozent im internationalen Vergleich nahezu mickrig aus. Dabei muss man fairerweise zugeben, dass sich Investitionsquoten zwischen Ländern nicht perfekt miteinander vergleichen lassen, da das staatliche Aufgabenspektrum nicht in jedem Fall vergleichbar ist.

Wenn man bedenkt, dass die staatliche Investitionsquote in Deutschland zwischen 1970 und 2017 von sechs auf etwa zwei Prozent gefallen ist und die Abschreibungen auf öffentliche Investitionen inzwischen oberhalb der tatsächlichen Investitionen liegen, bedarf es gar keiner internationalen Vergleiche mehr, um festzustellen, dass wir in Deutschland seit geraumer Zeit von der Substanz leben und dies zunehmend als Belastung für den Standort im Wettbewerb zu anderen empfunden wird. Man kann es drehen und wenden wie man will: Es wäre nicht abwegig zu fordern, dass der deutsche Staat pro Jahr in etwa 30 Mrd. Euro zusätzlich investiert. Verzichtet er darauf, geht dies zulasten künftiger Generationen.

#2 Geringere Grenzbelastungen für Transfer-Empfänger

Das deutsche Steuersystem zeichnet sich durch eine vergleichsweise deutliche Progression des Grenzsteuersatzes aus. Bis knapp 9000 Euro wird jeder zusätzlich verdiente Euro gar nicht versteuert, dann setzt die Besteuerung mit einem Grenzsteuersatz von 14 Prozent an, der dann auf 45 Prozent steigt. Durch diese Progression wird mehr als die Hälfte des Einkommensteueraufkommens allein von den obersten 10 Prozent der Steuerzahler geleistet, während 90 Prozent der Steuerzahler in der Summe weniger als die Hälfte des Steueraufkommens leisten. Dies ist verteilungspolitisch gewollt, und Sozialpolitiker verweisen gerne auf die damit einhergehenden Umverteilungseffekte. Was dabei komplett übersehen wird, ist aber die Tatsache, dass Empfänger von Transfereinkommen (Wohngeld, Sozialhilfe, ALG-II, Kindergeld, Kindergeldzuschlag etc.) nicht von einem niedrigen oder gar nicht vorhandenen Steuersatz profitieren, sondern unter einer extrem hohen Transferentzugsrate leiden.

Was sich kompliziert anhört, ist im Prinzip ganz einfach. Wenn man in Deutschland Transfereinkommen bezieht (und das sind immerhin etwa zehn Prozent der Bevölkerung), wird – vereinfacht gesagt – mehr oder weniger jeder hinzuverdiente Euro von den Transferleistungen abgezogen. In Wirklichkeit ist dies natürlich komplizierter, da in Deutschland jede Sozialleistung fallbezogen gewährt wird und die individuellen Auswirkungen je nach Familiensituation und anderen Rahmendaten unterschiedlich ausfallen können. Deshalb hat das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Zusammenarbeit mit dem Ifo Institut im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung in einer aktuell erschienenen Studie anhand einer größeren Anzahl von Musterhaushalten exakt berechnet, bei welchem Einkommen welche Grenzbelastung inklusive der Transferentzugsrate entsteht . Das Ergebnis kann durchaus als erschreckend bezeichnet werden und bestätigt viele andere Untersuchungen, die seit den 90er-Jahren immer wieder zu diesem Thema veröffentlicht wurden. Letztlich zeigt sich, dass an einigen Stellen im Einkommensverlauf Grenzbelastungen von bis zu 120 Prozent entstehen. Grenzbelastungen von 80 bis 100 Prozent sind sogar die Regel. Erst ab einem Haushaltsbruttoeinkommen von über 30.000 Euro (im Fall einer Familie mit zwei Kindern) sinkt die Grenzbelastung auf 40 Prozent, und erst bei über 70.000 Euro Haushaltsbruttoeinkommen sinkt die Grenzbelastung auf unter 40 Prozent.

Die Lösung für diese Schieflage besteht nun ganz sicher nicht darin, den Grenzsatz für die Einkommensteuer bei hohen Einkommen weiter zu erhöhen, sondern die sogenannte Transferentzugsrate bei geringen Einkommen beispielsweise auf 60 Prozent zu senken. Vereinfacht bedeutet dies, bei einem um 100 Euro erhöhten Einkommen den Transfer nicht um 100 Euro zu senken, sondern nur um 60 Euro. Erst unter solchen Rahmenbedingungen entsteht ein Anreiz, überhaupt zu arbeiten beziehungsweise mehr zu arbeiten

#3 Bessere Integration von Einwanderern am Arbeitsmarkt

Deutschland ist weltweit eines der beliebtesten Einwanderungsländer. Im Prinzip ist das eine erfreuliche Nachricht, denn erstens bestätigt es die Attraktivität des Standortes, und zweitens kann die Einwanderung die chronisch niedrige Geburtenrate in Deutschland zu einem gewissen Grad kompensieren. Soweit die Theorie! Für den Sozialstaat ergibt sich durch die Einwanderung aber nur eine Entlastung, wenn die Partizipation der Personen mit Migrationshintergrund am Arbeitsmarkt ähnlich hoch ist wie die der Personen ohne Migrationshintergrund. Das ist jedoch definitiv nicht der Fall. Bereits seit Jahrzehnten liegt die Beschäftigungsquote von Einwanderern substanziell unter dem Durchschnitt der Beschäftigungsquote von Deutschen. Bei der Arbeitslosenquote verhält es sich genau anders herum. Da zudem das durchschnittliche Einkommen von Einwanderern signifikant unter dem Durchschnittseinkommen liegt, während sozialstaatliche Leistungen eher überdurchschnittlich in Anspruch genommen werden, legen Studien des sogenannten Generational Accounting zu Deutschland auf Basis der Daten vom Mikrozensus nahe, dass der deutsche Staat bisher aus ökonomischer Perspektive nicht von der Einwanderung profitiert.

Die Lage wird leider noch ein wenig komplizierter wenn man sich die Mühe macht, Ursachen für Erfolge und Misserfolge zu finden und Migration nicht als homogenes Phänomen begreift. Wer verstehen will, was in den letzten Jahren geschehen ist, muss sich mit den Zahlen beschäftigen. So zeigt sich, dass die Einwanderung aus den Staaten der jüngsten EU-Osterweiterung für den deutschen Staat noch vergleichsweise positiv zu bewerten ist. Deren Arbeitslosenquote liegt nur knapp über der Arbeitslosenquote von Deutschen und die Beschäftigungsquote nähert sich langsam dem Wert deutscher Arbeitnehmer an. Ganz anders sieht es dagegen aus, wenn man die nichteuropäischen Asylherkunftsländer analysiert.

Es ist zwar verständlich, dass Politiker um dieses eher heikle Thema gerne einen Bogen machen, da immer die Gefahr besteht, sich in politisch vermintes Gelände zu begeben und in einen Kontext gebracht zu werden, in dem man sich verständlicherweise nicht finden möchte. Die oben aufgezeigten Tendenzen bergen aber auf der anderen Seite eine enorme Sprengkraft, und es wäre töricht, wenn die Politik das Thema Arbeitsmarktintegration von Migranten nicht auf die Tagesordnung nehmen würde.

#4 Ehrliche Worte und Taten zur Rente

Das umlagefinanzierte Rentensystem kann nur funktionieren, wenn jede arbeitende Generation zwei Aufgaben übernimmt: Auf der einen Seite die Rente der alten Generation über Beiträge finanzieren und auf der anderen Seite eine neue Generation von Beitragszahlern großziehen und gut ausbilden. Da es angesichts der niedrigen Geburtenrate „Probleme“ mit der Erfüllung der zweiten Aufgabe gibt, ist eine Erhöhung des Renteneintrittsalters mathematisch unausweichlich. Alternativ könnte man auch dazu übergehen, Beitragszahlern ab Erreichen eines Alters von beispielsweise 30 Jahren zu verpflichten, zusätzlich zu den „normalen“ Beiträgen weitere Beiträge in eine kapitalgedeckte Rentenversicherung zu zahlen, so lange sie kinderlos sind. Diese rabiate Lösung ist selbstredend schwer durchsetzbar. Künftige Rentner sind Wähler, und deshalb tun sich Politiker schwer, grundsätzliche Überlegungen in diese Richtung anzustellen. Das ändert aber nichts daran, dass es in etwa 20 Jahren zu einem bösen Erwachen kommen wird, wenn jetzt nicht erste ehrliche und zielorientierte Schritte in die richtige Richtung unternommen werden.

Die oben aufgeführten Aspekte und Themenfelder sind nur einige Beispiele dafür, was eine verantwortungsvolle Bundesregierung mit einem längeren Zeithorizont über die Wahlperiode hinaus in Angriff nehmen müsste. Den Wunschzettel haben wir pünktlich abgegeben und sind mit Ihnen ohne Illusionen gespannt auf ein Resümee vor den Wahlen 2021.

Frank Geilfuß ist Leiter Kapitalmärkte beim Bankhaus Löbbecke. Er schreibt auf capital.de regelmäßig über Finanzmarktthemen.

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