Der staatlich-ukrainische Öl- und Gaskonzern Naftogaz ruft Deutsche und Europäer auf, kein russisches Gas mehr aus den eigenen Leitungen zu kaufen. Dadurch zu erwartende drastische Preissteigerungen „sollten wir bereit sein zu zahlen, um nicht mitverantwortlich zu sein für das menschliche Leid durch Putins Krieg“, sagte Mavrikiy Kalugin, der für das operative Geschäft zuständige Naftogaz-Vorstand, ntv.de. Dem Preis für die Energie stehe ein „Preis für Freiheit und Menschlichkeit“ gegenüber. Naftogaz leitet trotz des russischen Überfalls seit zwei Wochen weiter russisches Gas durch seine Pipelines in der Ukraine nach Europa. Gleichzeitig kauft das Unternehmen Gas für ukrainische Unternehmen und Verbraucher auf dem europäischen Markt. Das kriegsgebeutelte Land ist vom Energiepreisanstieg also ebenfalls unmittelbar betroffen.
Im Gespräch mit ntv.de stellte Kalugin klar, dass Naftogaz selbst den Gastransport von Russland in die EU nicht stoppen werde. „Wir sind ein verlässliches Unternehmen“, sagte Kalugin. „Diese Entscheidung liegt bei unseren Kunden.“ Dass diese europäischen Kunden einerseits eine so eindrückliche Solidarität mit der überfallenen Ukraine demonstrierten, andererseits aber Russland täglich Hunderte Millionen Euro für Gasimporte überweise, mit denen Machthaber Wladimir Putin „seinen Krieg gegen Zivilisten“ finanziere, nannte der Manager „widersprüchlich“ und „befremdlich“.
Kalugin nannte zwei Alternativen, wenn die Europäer zu einem Importstopp nicht bereit seien. Zum einen könnte die Bezahlung für das russische Gas auf ein Treuhänderkonto überwiesen werden. „Es würde dann erst ausgezahlt, wenn Putin seinen Angriff stoppt.“ Oder: „Deutschland sollte zumindest die Gaspipeline Nord Stream 1 stoppen“, forderte Kalugin. Nord Stream 1 transportiert Gas durch die Ostsee um die Ukraine als Transitland herum. Eine Stilllegung dieser deutsch-russischen Direktleitung würde Russland zwingen, fast sein gesamtes Gas durch die Ukraine, wo ausreichend Pipelinekapazitäten bereitstehen, zu leiten. „Das wäre für uns eine Art Versicherung.“ Russische Truppen könnten so gezwungen werden, Angriffe auf diesen wichtigen Teil der ukrainischen Infrastruktur zu vermeiden oder ihre Invasion sogar ganz zu stoppen.
„Eine Frage des Überlebens“
Naftogaz-Einrichtungen seien wiederholt Ziel russischer Raketenangriffe gewesen, berichtete Kalugin. Mehrere Kollegen seien bereits am ersten Kriegstag getötet worden. Insbesondere Öl- und Gasproduktionsstätten seien angegriffen worden. „Wir versuchen, die Produktion trotzdem so weit wie irgendwie möglich aufrechtzuerhalten“, berichtet Kalugin. Das sei für viele Ukrainer „eine Frage des Überlebens“. Denn das Land sei weitgehend auf Gas als Energieträger für die Wirtschaft ebenso wie für Privatverbraucher ausgerichtet. „Ohne Gas können die Menschen weder heizen noch kochen“, so Kalugin.
Bisher habe Naftogaz die Gasproduktion weitgehend aufrechterhalten und die Versorgung für die meisten Landesteile sicherstellen können, sagte Kalugin. „Niemand weiß, ob wir das morgen noch können. Die Front rückt aber immer näher an die Gasförderanlagen im Osten heran.“ Die Mitarbeiter arbeiteten in großer Gefahr unter schwersten Bedingungen, um die Gasversorgung aufrechtzuerhalten. Es fehle vor allem an Schutzausrüstung, Helmen und sogar Lebensmittelrationen.
Bedroht sei die Gasförderung außerdem durch einen Mangel an Methanol, sagte Kalugin. Das zur Erdgasproduktion notwendige Gas hatte Naftogaz vor dem Krieg größtenteils in Russland gekauft. Nur mit größter Mühe habe er überhaupt Alternativanbieter in anderen Ländern gefunden, berichtete Kalugin. Das Gas in Zügen oder Lkw zu den Produktionsstätten in der Ostukraine zu transportieren, sei jedoch die größte Herausforderung.
Kalugin begrüßte Pläne aus Deutschland und der EU, langfristig ganz auf russisches Erdgas – und damit auf die Dienste von Naftogaz als Transitpipeline-Betreiber – zu verzichten. Die Ukraine könne auf lange Sicht vom Transitland selbst zum Energielieferanten werden. Unter anderem unter dem Dniepr-Donezk-Becken schlummerten große Gasreserven. Bis die Ukraine zu einem Gasexporteur werde, seien aber weitere Untersuchungen, Milliardeninvestitionen und mehrere Jahre Arbeit notwendig. Langfristig wolle Naftogaz zum Lieferanten für grünen, also mit erneuerbarer Energie gewonnenen, Wasserstoff werden, erklärte Kalugin. Dafür könne die Ukraine seine große, teils dünnbesiedelte Fläche vor allem für Windkraftanlagen nutzen. Mit dem deutschen Energiekonzern RWE hatte Naftogaz kürzlich eine Vereinbarung für ein erstes Pilotprojekt dazu abgeschlossen.
Der Beitrag ist zuerst erschienen auf ntv.de