Wem das Metaverse fremd ist und wer glaubt, die Technologie wurde gekapert von Krypto, Entertainment und Games, sollte sich ein paar Minuten Zeit nehmen für diesen Beitrag. Mein Fokus ist die Sinnfrage: Welche Auswirkungen hat das Metaverse, diese digitale 3D-Umgebung, die die reale und die virtuelle Welt kombiniert, auf unseren Planeten, den Menschen, die Gesellschaft? Was ist der Nutzen für die Medizin, Forschung, Industrie, Bildung, Sicherheit, globale Zusammenarbeit? Die Antworten sind durchaus aufmunternd – und relevant für 2023.
Das Metaverse lässt sich als eine Art Ansammlung neuer Technologien verstehen, von 5G, virtueller, erweiterter und Mixed-Realität (VR, AR, MR), Künstlicher Intelligenz (KI), digitalen Zwillingen, Blockchain, Holographie bis zum Internet der Dinge (IoT).
Medizin
Was leistet das Metaverse bezüglich der häufigsten Krebserkrankung der Welt, dem Brustkrebs? 2022 gab es die erste erfolgreiche Brustkrebsoperation im Metaverse, ausgeführt von Pedro Gouveia, Chirurg im Champalimaud Clinical Center in Lissabon. Mit Hilfe von 5G+, KI und der Mixed- Reality-Brille HoloLens 2 von Microsoft „kann ich zum einen die reale Welt um mich herum sehen, den Patienten, der auf dem OP-Tisch liegt und gleichzeitig habe ich Zugriff auf alle Patienteninformationen, die auf die Spezialgläser der Brille projiziert werden“, so Gouveia. Damit sieht ein Chirurg zwar aus wie ein Kampfpilot, doch die von ihm verwendete Technologie bedeutet, dass der gesamte Prozess – Tumoridentifizierung, Diagnose, Operation und Behandlung – die Risiken und Traumata für die Patienten drastisch reduziert. Diese neue Präzision ermöglicht, den zu entfernenden Tumor sehr genau zu lokalisieren. Bisher ist das nicht der Fall. Chirurgen operieren eigentlich (übertrieben) im Dunkeln – weder können sie den Tumor im Brustgewebe lokalisieren, weshalb es häufig zu Verletzungen kommt, noch verfügen sie über Echtzeitinformationen.
Eine OP im Metaverse ist zudem ortsunabhängig. Während Gouveia mit seiner Patientin im OP-Saal in Lissabon agierte, intervenierte und überwachte sein Kollege von der 900 Kilometer entfernten Universität Saragossa in Spanien. Das bedeutet, ein Chirurg ist nicht mehr auf sich allein gestellt – egal wo auf dem Planeten er gerade arbeitet. Ein Mentor kann sich von überall zuschalten und verfügt sofort über die gleiche Sicht und Informationen.
Forschung und Wissenschaft
Je mehr das Internet im Wesentlichen zu einem virtuellen Zwilling der physischen Welt wird, desto stärker lösen sich bisherige Grenzen für Forschung und Wissenschaft auf. Wie hilfreich ist das Metaverse bei der Lösung unseres dringendsten Problems – des Klimawandels?
Als Teil des Green Deals der EU wurde 2022 das Projekt Destination Earth ins Leben gerufen: die Schaffung eines hochpräzisen digitalen Modells unseres gesamten Planeten. „Diese Nachbildung ist ein digitaler Zwilling. Es ist eine gigantische Aufgabe, die die weltweit größte Rechenleistung erfordert, um die genauesten Daten zur Bekämpfung des Klimawandels zu erstellen“, beschreibt Direktor Peter Bauer das von ihm geleitete 7-Mrd.-Euro-Projekt. In einem Gemeinschaftsprojekt wird hier die grüne Transformation punktgenau umgesetzt. Destination Earth soll bis 2030 die komplexe Software- und Hardwareumgebung bereitstellen, die für die nächste Generation von Vorhersagemodellen mit sehr hoher Auflösung benötigt wird. Damit wären alle Informationen abrufbar, um den Planeten auf globaler, regionaler und lokaler Ebene zu heilen. Das gleiche Prinzip gilt für digitale Zwillinge von Ozeanen, Städten, Fabriken.
Industrie
Wer das Metaverse verfolgt, seit der Begriff von Science-Fiction-Autor Neal Stephenson geprägt worden ist, hat früh erkannt, dass es ein wettbewerbsfähiges Schlachtfeld für Industrien in der Zukunft sein wird. „Ich glaube, dass die Metaverse-Revolution eine industrielle Revolution wird“, sagt Microsoft-Deutschland-Chefin Marianne Janik und spricht vom „Urknall“, den es bereits gegeben habe, „den aber noch nicht alle gehört haben.“ Für sie ist das Metaverse in der Industrie längst angekommen. Auch, weil Microsoft in der Entwicklung ganz vorn ist.
Top-Global-Player haben in den vergangenen Jahren etwa 180 Mrd. US-Dollar in die Entwicklung des Metaverse investiert. Und digitale Zwillinge sind das Fundament, auf welchem die Transformation gedeihen kann. Es entsteht ein neues Ökosystem, das Technologien tief in die Realwirtschaft integriert, wie zum Beispiel ein neues Fertigungssystem für die gesamte Wertschöpfungskette.
Schon vor zwei Jahren hat mir Cedrik Neike, Siemens CEO Digital Industries, von dem Industrie-4.0- Elektronikwerk in Amberg berichtet, das vom Weltwirtschaftsforum zum „globalen Leuchtturm“, zu einer der „besten Fabriken der Welt“ gekürt wurde. Es nutzt konsequent Automatisierung und Digitalisierung, um der Nachhaltigkeit gerecht zu werden – von IoT, digitalen Zwillinge, Smart Robotics, bis Cloud und Edge Computing. Siemens implementierte ein ganzheitliches Energiemanagementsystem über einen digitalen Zwilling der Fabrik.
Die Fabrik läuft mit Ökostrom, zur Überwachung des Energieverbrauchs, der Treibhausgasemissionen, des Abfalls und des Wassers wurden digitale Dashboards eingerichtet. Auf Fabrikebene unterstützt die Digitalisierung eine höhere Energieeffizienz durch KI-Modelle, um Bereiche wie Produktion, Bestand, Abfall und Testaufwand zu optimieren. Durch diese Umwandlungen wurde der direkte Energieverbrauch um fünf Prozent, die Treibhausgasemissionen um 58 Prozent und der gesamte Materialabfall um sechs Prozent reduziert.
Bildung und Kultur
Werden wir durch das Metaverse klüger? Welchen Beitrag leistet es im Unterricht, in der Berufsausbildung, Studium, Weiterbildung? Einige Vorteile sind: das virtuelle 3D-Klassenzimmer, Digitales Lernen, virtuelle Campus-Aktivitäten, interdisziplinäres Lernen oder die Simulation realistischer Situationen. Astronomiestudenten können das Sonnensystem oder verschiedene Schichten der Erde oder die Konstellationen durch hyperrealistische visuelle Erfahrung erkunden. In der Wissenschaft erleichtert es Laboraktivitäten und ermöglicht Studenten, in einem virtuellen Aufbau zu experimentieren. In der Literatur kann eine Geschichte neu erstellt werden, in der die Schüler die Szenen betreten oder in Geschichte können Schüler beispielsweise die Französische Revolution live miterleben.
Der Unterricht wird lebensnaher, begreifbarer. So auch unsere Fantasie. Das, was wir uns vorstellen können, können wir bald auch in die Realität umsetzen. So hat der junge syrische Hololux-Programmierer Zaid Zaim die 2016 vom IS zu großen Teilen zerstörten Überreste der antiken syrischen Oasenstadt Palmyra virtuell zu neuem Leben erweckt. Dafür nutzt das Projekt, offiziell Cultural Heritage Palmyra, die offene, spendenfinanzierte Datenbank New Palmyra, die verschiedene Informationen, 3D-Rekonstruktionen und Fotografien zu dem Ort sammelt. Das Ergebnis sind Hologramme der Kulturerbe-Stätten, die Palmyra vor der Zerstörung zeigen und sich über Microsofts HoloLens 2 betrachten und erkunden lassen.
Regeln und Sicherheit
Wie kann in einem offenen und wirtschaftlich tragfähigen Metaverse die Sicherheit gewährleistet werden? Wir sollten nicht die gleichen Fehler begehen wie mit dem Internet. Freiheit kann nicht bedeuten, die Freiheit der anderen zu torpedieren. Wir brauchen Regeln, Standards, Gesetze: Was ist erlaubt, was ist strafbar, wer ist zuständig? Wir werden Gefahren ausgesetzt sein wie Identitätsdiebstahl, Fälschungen, Avatar-Angriffen, Erpressungen. Auch wird es mittels gängiger Bitcoin-Transaktionen einfacher, illegal erworbenen Reichtum im Metaversum zu verbergen.
Interpol-Generalsekretär Jürgen Stock kündigte im Oktober 2022 die Einrichtung einer Expertengruppe Metaverse an. Interpol ist die zentrale Anlaufstelle für die globale Strafverfolgungsgemeinschaft und rüstet die Polizeikräfte aus, um nicht nur den Missbrauch im Metaverse effektiv zu bekämpfen, sondern auch seine verantwortungsvolle Nutzung zu gewährleisten. Interpol Metaverse schult vor allem die Belegschaft. Aber man will auch einen globalen Austausch von Ideen und Möglichkeiten für die Strafverfolgung austarieren, das offene Zusammenarbeiten mit Regierungen und Foren ermöglichen. Jürgen Stock: „Wir haben uns mit dem Weltwirtschaftsforum, Meta, Microsoft und anderen Partnern zusammengetan, um das Metaverse zu definieren. Metacrimes wie Social-Engineering-Betrug, gewaltbereiter Extremismus und Fehlinformationen stellen besondere Herausforderungen dar.“
Aber das Metaverse bietet Strafverfolgungsbehörden auch Vorteile wie Remote-Arbeit, Vernetzung, Sammlung und Aufbewahrung von Beweisen an Tatorten und Bereitstellung von Schulungen.
Davos: globale Zusammenarbeit im Metaverse
Ist das Metaverse nun eine Revolution, wie Marianne Janik sagt? Dient es dem Menschen, dem Planeten, dem Fortschritt? Anhand meiner Beispiele zeigt sich zumindest, dass Quantensprünge in vielen Bereichen möglich sind. Wie im realen Leben steht und fällt es mit der Intention des Menschen. Wollen wir den digitalen Zwilling unseres Planeten besser, fairer und grüner gestalten? Wollen wir fruchtbare globale Zusammenarbeit? Wollen wir, dass alle Stakeholder der Gesellschaft einen Platz am Tisch haben?
Diese Fragen sind auch Thema beim Jahrestreffen des Weltwirtschaftsforums in Davos. In Pioniermanier begrüßt es seine Gäste 2023 mit einer eigenen Metaverse-Plattform, dem Global Collaboration Village. Es ist eine offene, kooperative Plattform, die mit Unternehmen, internationalen Organisationen, Regierungen, der Zivilgesellschaft und wissenschaftlichen und kulturellen Akteuren im Multi-Stakeholder-Gedanken aufgebaut wird. Klaus Schwab, WEF-Gründer und Chairman: „Das Metaverse wird die Art und Weise beeinflussen, wie Menschen, Regierungen als Ganzes denken, arbeiten, interagieren und kommunizieren, um gemeinsam die Themen der globalen Agenda anzugehen.“
Bis 2026 soll sich ein Viertel der Weltbevölkerung, so die Prognosen, im Metaverse aufhalten. Wenn es unser gemeinsamer Wille ist, kann es eine gute Revolution werden.