Martin N. Baily war Vorsitzender des wirtschaftlichen Beraterstabes von Präsident Bill Clinton und ist Leiter des Bereichs Wirtschaftspolitische Entwicklung der Brookings Institution. Pål Erik Sjåtil ist Managing Partner für Osteuropa, die GUS, den Nahen Osten und Afrika bei McKinsey.
Vor fünf Jahren erlebten Mittel- und Osteuropa eine der beeindruckendsten Wachstumsstorys weltweit. Das jährliche BIP-Wachstum lag bei fast fünf Prozent, nur knapp hinter den chinesischen und indischen Wachstumsraten. Ausländische Direktinvestitionen im Umfang von mehr als 40 Mrd. Dollar strömten Jahr für Jahr nach Bulgarien, Kroatien, Tschechien, Ungarn, Polen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien. Eins von sechs Autos, das in Europa verkauft wurde, kam aus den Fabriken in der Region. Produktivität und BIP pro Kopf stiegen rasch und waren dabei, die Kluft gegenüber Westeuropa zu schließen.
Seit der globalen Finanzkrise und der daran anschließenden Rezession jedoch tut sich die Region schwer, wieder in Schwung zu kommen. Das Wirtschaftswachstum ist auf weniger als ein Drittel seines Vorkrisenniveaus gesunken. Die ausländischen Direktinvestitionen, die zwischen 2008 und 2009 um 75 Prozent abgestürzt waren, haben sich nur teilweise erholt.
Tatsächlich scheint die Region vom Radar der globalen Unternehmen und Investoren verschwunden zu sein. Dabei zeigen neue Untersuchungen, dass die Attribute, die Mittel- und Osteuropa damals so attraktiv machten, weiterhin gelten.
Wachstum und Direktinvestitionen sind noch immer niedrig, aber insgesamt hat die Region die Krise relativ gut überstanden. In den meisten Ländern haben die Schulden der öffentlichen Hand seit 2004 den Anteil von 60 Prozent vom BIP nicht überschritten – ganz anders als in vielen der 15 Länder, die bereits vor 2004 Mitglieder der Europäischen Union waren. Auch weisen diese Länder kollektiv nach wie vor eine gut ausgebildete Erwerbsbevölkerung und ein Lohnniveau auf, das im Schnitt um 75 Prozent unter dem der EU15-Länder liegt.
Abhängigkeit von Exporten nach Westeuropa
Andererseits hatte das Gebiet seinen Anteil an einigen der Exzesse – insbesondere auf dem Immobilienmarkt –, die zum Entstehen der Krise beitrugen. In Rumänen stiegen die Immobilienpreise zwischen 2004 und 2007 um jährlich 23 Prozent. Und trotz erheblicher Verbesserungen im Geschäftsumfeld in allen Ländern ist die Korruption in diesen Volkswirtschaften ausgeprägter als in den EU15-Nachbarländern (wenn auch geringer als in anderen Schwellenländern wie China, Indien, Brasilien und Russland).
Wichtiger ist, dass die Krise erhebliche Schwächen im Wirtschaftsmodell der Länder aufgezeigt hat: eine übermäßige Abhängigkeit von Exporten nach Westeuropa und ein im Vergleich zu anderen sich entwickelnden Regionen hohes Konsumniveau, angeheizt durch Kreditaufnahmen und eine starke Abhängigkeit von ausländischen Direktinvestitionen zur Finanzierung von Anlageinvestitionen.
Doch könnte die Übernahme eines neuen Wachstumsmodells in Mittel- und Osteuropa unserer Ansicht nach eine Rückkehr zu Wachstumsraten von vier bis fünf Prozent ermöglichen. Dieses Modell umfasst drei wesentliche Bestandteile: Ausweitung und Aufwertung der Exporte, Steigerung der Produktivität in Sektoren, wo sie schwach ist, und Wiederbelebung ausländischer Direktinvestitionen bei gleichzeitiger Entwicklung von Methoden, mit denen die Volkswirtschaften der Region einen größeren Anteil ihres Wachstums durch höhere eigene Ersparnisse finanzieren können.
Die Länder haben eine große Chance, den Wert ihrer Waren- und Dienstleistungsexporte zu steigern. So sind sie beispielsweise gut aufgestellt, um zu einem regionalen Zentrum für die Lebensmittelverarbeitung für den Großraum Europa und darüber hinaus zu werden. Die Tariflöhne sind noch immer so niedrig, dass in Polen hergestellte Würste in Berlin rund 40 Prozent weniger kosten als Würstchen aus Hamburg.
Standort für Outsourcing und Offshoring
Die Region ist schon jetzt ein Nettoexporteur von „wissensintensiven“ Waren wie Autos und Luftfahrtprodukten. Bei zusätzlichen Bildungsinvestitionen und einem weiteren Ausbau von Industrieclustern wie Dolina Lotnicza, einem Schwerpunkt der Luftfahrtindustrie im Südosten Polens, könnte sie sogar in technisch noch anspruchsvollere Bereiche vordringen.
Eine vielversprechende Chance liegt in den wissensintensiven Dienstleistungen. Angeführt von Polen, ist die Region ein zunehmend bedeutsamer Standort für Outsourcing und Offshoring. Die Outsourcing-Branche wächst derzeit doppelt so schnell wie die indische.
Doch könnte angesichts von zwei Trends in Asien – steigenden Lohnkosten und der zunehmenden Besorgnis westlicher Outsourcing-Kunden über beständige kulturelle und sprachliche Barrieren – sogar noch mehr Wachstumspotenzial bestehen.
Mittel- und Osteuropäer sind angesichts ihrer guten Sprachkenntnisse und kulturellen Vertrautheit mit europäischen und nordamerikanischen Kunden gut aufgestellt, um von diesen Trends zu profitieren. Die Region liegt zudem viele Zeitzonen näher an ihren europäischen und US-amerikanischen Kunden als Firmen in Asien.
Weitere Reformen sind notwendig
Auch sind in einer Reihe von Sektoren Produktivitätssteigerungen zu erwarten. Im Baugewerbe, einem hochgradig informellen Sektor, liegt die Produktivität um 31 Prozent unter EU15-Niveau. Auch in der Landwirtschaft ist die Produktivität aufgrund des hohen Anteils weniger stark mechanisierter kleinbäuerlicher Betriebe niedrig. Die Öffnung des Landwirtschaftssektors für ausländische Direktinvestitionen würde helfen, die durchschnittlichen Betriebsgrößen zu erhöhen und modernere Methoden einzuführen.
„Netzgebundene“ Industrien wie Stromversorger und Eisenbahnsysteme wurden in großen Teilen der Region teilprivatisiert. Ihre noch stärkere Öffnung für den Wettbewerb und marktwirtschaftliche Anreize würden dazu beitragen, die Produktivität in diesen Branchen zu steigern.
Um die Abhängigkeit von Konsumkrediten und die Unwägbarkeiten des Zustroms ausländischer Direktinvestitionen zu verringern, müssen, wenn die Nachfrage wieder steigt, die Sparquoten innerhalb der Region gesteigert werden. Rentenreformen und die Weiterentwicklung der Finanzmärkte würden das begünstigen.
Die Umsetzung der einzelnen Bestandteile dieses Wachstumsmodells in Mittel- und Osteuropa wird weitere Reformen erfordern, die darauf abzielen, Geschäftsprozesse zu erleichtern und den Anlegerschutz zu stärken. Die Volkswirtschaften der Region sollten zudem deutlich mehr in die Infrastruktur investieren und die Auswirkungen der Bevölkerungsalterung in Angriff nehmen, die die jährlichen Wachstumsraten im kommenden Jahrzehnt um ca. 0,7 Prozent mindern könnte. Eine Steigerung des Frauenanteils der Erwerbsbevölkerung wäre eine Möglichkeit, um die Erwerbsbeteiligung auf das Niveau der EU15 zu erhöhen und einen steilen Anstieg der nicht erwerbstätigen Bevölkerung zu vermeiden.
Mittel- und Osteuropa werden in diesem Jahr unweigerlich im globalen Rampenlicht stehen. Der 25. Jahrestag des Falls des Eisernen Vorhangs und der 10. Jahrestag des EU-Beitritts der Tschechischen Republik, Ungarns, Polens, der Slowakei und Sloweniens bieten der Region eine Chance, zu zeigen, welche Fortschritte sie im Laufe des letzten Vierteljahrhunderts gemacht hat. Das beträchtliche Potenzial der Region in weitere Erfolge umzusetzen erfordert freilich eine neue Wachstumsstrategie.
Aus dem Englischen von Jan Doolan
Copyright: Project Syndicate, 2014. www.project-syndicate.org