Seit der Corona-Pandemie haben die Essenskuriere des Restaurant-Bringdiensts Lieferando deutlich mehr Mitbestimmungsrechte erstritten. Dies spiegelt sich in der Zahl der Betriebsratsgründungen bei der deutschen Logistiktochter Takeaway Express wider, die rund 5000 Kuriere beschäftigt.
Nach Angaben von Lieferando und der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) existieren dort mittlerweile 24 Betriebsratsgremien mit rund 200 gewählten Vertretern. Dies deckt etwa ein Drittel der Liefergebiete ab. Noch vor drei Jahren gab es Betriebsräte lediglich in vier Städten.
Lieferando führte 2019 die betriebliche Mitbestimmung ein, wenn auch eher unfreiwillig. Beim Kauf des Konkurrenten Foodora wurde damals auch dessen Betriebsrat übernommen. Versuche des Managements, das Gremium wieder loszuwerden, scheiterten vor Gericht.
Betriebsrat-Boom bei Start-ups
Seitdem haben sich die Fahrer in der Fläche organisiert. Ein Grund für die Ausbreitung: Die Gewerkschaft NGG hat sich auf die Lieferbranche spezialisiert und bietet inzwischen Schulungen für die Betriebsratsarbeit in Plattformunternehmen an. Zudem unterhält sie einen Arbeitskreis zum Thema Lieferdienste. „Wir gehen das ganz aktiv an“, sagt Mark Baumeister, Referatsleiter bei der NGG.
Start-ups und Betriebsräte – das ist bisweilen eine heikle Kombination, wie Capital jüngst in einem großen Report anhand zahlreicher Beispiele beleuchtet hat. Die Nachfrage nach Mitbestimmung steigt angesichts von Sparrunden und Massenentlassungen zwar – doch die Abwehrmechanismen bleiben dieselben.
Auch bei Lieferando läuft die Zusammenarbeit schleppend. Management und Betriebsrat haben kaum ein gutes Wort übereinander zu sagen. Beide Seiten werfen sich gegenseitig vor, den Dialog zu verweigern. Die Arbeitnehmer klagen über Verhinderung der Mitbestimmung (sogenanntes Union Busting), der Arbeitgeber über die Sabotage der Betriebsabläufe.
Man trifft sich vor Gericht
„Jedes Mitbestimmungsrecht muss eingeklagt werden“, berichtet Baumeister, der das Thema Lieferdienste überregional betreut. Das hat fast schon Tradition: Seit Beginn der Betriebsratsarbeit streiten sich die Anwälte von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite immer wieder vor Gericht, verschicken stapelweise Stellungnahmen und einstweilige Verfügungen.
Meistens geht es um die Anfechtungen von Betriebsratswahlen. Aktuell gehen die Lieferando-Anwälte gegen sechs der 24 Betriebsratsgremien vor, weil sie diese für unrechtmäßig halten. „Zu Anfechtungen kommt es vor allem, wenn die Gründung oder Wahlorganisation gegen das Betriebsverfassungsgesetz verstoßen könnte“, teilt ein Sprecher von Lieferando mit. Typischerweise liege das an unterschiedlichen Auslegungen, ob ein Liefergebiet auch als eigenständiger Betrieb gelten kann.
In anderen Gerichtsverfahren geht es um Genehmigung von Dienstplänen, Neueinstellungen oder die Veränderung von Liefergebieten. „Der Arbeitgeber lässt es immer darauf ankommen – auch bei Kleinigkeiten“, klagt ein Mitglied des Betriebsrats.
Lieferando sieht „achtbaren Erfolg“
Trotz der Spannungen bezeichnet das Management die betriebliche Mitbestimmung als „achtbaren Erfolg“ und verweist auf „zahllose erfolgreich abgeschlossene Betriebsvereinbarungen“, etwa zu Arbeitszeiten, Schichtplanung und Bonuszahlungen. „Sowohl die Existenz als auch der Umfang an Mitbestimmung gehören zu den Alleinstellungsmerkmalen von Lieferando“, sagt der Unternehmenssprecher.
Gemeinsam an einen Tisch setzen sich die Parteien jedoch kaum noch, wie aus dem Firmenumfeld zu hören ist. Zu besprechen gäbe es viel: Die Gewerkschaft NGG fordert aktuell einen Tarifvertrag und einen fixen Stundenlohn von mindestens 15 Euro. Lieferando hat darauf bislang nicht reagiert. „Wir werden nicht locker lassen“, kündigt Baumeister an. Für das zweite Halbjahr plane man deutschlandweite Streiks, sollte es weiter keine Verhandlungsbereitschaft geben.