Vor einem Jahr verbrachten meine Frau und ich unseren Urlaub in Namibia. Das ist ein wunderschönes Land, in dem sich – anders als in unseren Breitengraden – der Übergang zwischen fast unberührter Wildnis und zivilisatorischer Zähmung gut beobachten lässt. Während bei uns das Leben, die Arbeit und sogar das Ableben strikt geregelt sind, scheint man in Afrika nur das Notwendigste und oft nicht einmal das regulieren zu wollen. Diese Wildnis können wir derzeit noch bei Kryptowährungen wie Bitcoin, Ether, Ripple oder IOTA beobachten. Sie sorgen weltweit für viel Aufmerksamkeit.
Regierungen und Regulatoren ringen um den richtigen Umgang mit diesen neuen Finanzinstrumenten. Die starken Kursbewegungen beschäftigen Spekulanten und Unternehmen, die sich über „Kryptos“ finanzieren wollen. Der Marktwert aller derzeit über 1500 Kryptowährungen bewegt sich auf einer rasanten Achterbahnfahrt. Von Anfang 2017 noch unter 20 Mrd. Dollar ging es bis im Januar 2018 auf über 800 Mrd. Dollar. Derzeit pendelt der Marktwert laut des Branchendienstes Coinmarketcap um die 300 Mrd. Dollar.
ICOs als Finanzierungsinstrument
Längst haben Start-ups Kryptos als Finanzierungsinstrument entdeckt. Und erste etablierte Unternehmen (zum Beispiel Kodak ) versuchen sich über sogenannte ICOs zu finanzieren. ICOs (= Initial Coin Offering) sind eine noch junge Adaption der Unternehmensfinanzierung, die seit 2017 einen Boom erleben (hier eine laufend aktualisierte Statistik ). Die Bezeichnung ist an den englischen Begriff für Börsengang „Initial Public Offering“ (IPO) angelehnt, hat damit aber wenig zu tun. Ich habe darüber bereits hier und hier geschrieben. Bei einem ICO werden digitale Token (Token = Wertmarke) für verschiedenste Zwecke verkauft. Technisch realisiert werden ICOs mit Hilfe von Varianten der Blockchain-Technologie, die auch der Mutter aller Kryptowährungen zu Grunde liegt, dem Bitcoin. Mit Hilfe der Blockchain-Technologie werden Verfügungsrechte über materielle und immaterielle Güter mit Hilfe kryptografischer Verfahren manipulationssicher dezentral und digital dokumentiert.
In den vergangenen 14 Monaten haben nach Erhebung der Start-up-Datenbank Crunchbase Gründer 4,5 Mrd. Dollar über ICOs eingesammelt. Über traditionelle Finanzierungsrunden sollen es danach nur 1,3 Mrd. Dollar gewesen sein. Manche Token können zur Nutzung von Dienstleistungen oder zum Kauf von Produkten verwendet werden (man spricht dann von einem utility token ). Dies beabsichtigt etwa das Frankfurter Fintech Savedroid . Andere beinhalten bestimmte Rechte, wie Stimmrechte, Gewinnanteile, Zinsen oder andere Wertversprechen. Oft sind diese Gegenleistungen selbst für Fachleute nur schwer erkennbar und zu bewerten. Gleichwohl haben viele dieser Kryptoassets einen positiven Marktwert und werden auf spezialisierten Plattformen (Kryptobörsen genannt) gehandelt. Dort können sie in herkömmliche Währungen oder andere digitale Token getauscht werden.
Berechtigte Warnungen
Viele behördliche Warnungen (etwa der deutschen Finanzaufsicht ) beziehen sich auf Risiken, dass die Versprechen der Emittenten sich nicht erfüllen und die Token bis hin zum Totalverlust an Wert verlieren könnten. Diese Warnungen sind berechtigt. Viele ICOs gelten als hoch spekulativ. Hinter manchem ICOs steckt nicht einmal ein Geschäftsmodell oder gar Betrug (die Szene spricht hier von Shitcoins ). Laut einer Studie sollen 46 Prozent aller ICOs aus dem vergangenen Jahr gescheitert sein. Der Informationsdienst Bitcoin.com vermutet, dass Anleger täglich 9 Mio. Dollar mit dubiosen ICOs verlieren.
Ähnlich wie bei vielen etablierten Finanzinstrumente, wie Derivaten, Differenzkontrakten, Pennystocks oder Crowdinvestings sind also die Risiken hoch und ein Totalverlust nicht unwahrscheinlich. Diese Verlustrisiken, sind freilich kein Grund diese Instrumente zu verbieten, wie dies einige erwägen. Wenn jedes Finanzinstrument verboten würde, mit denen Anleger irgendwann einen Totalverlust erlitten haben, würde es keine Finanzinstrumente mehr geben und vermutlich nicht einmal Geld. Aber wie auch im Straßenverkehr hierzulande oder im traditionellen Finanzwesen erwarten wir passende Leitplanken. Ungesicherte Schotterstraßen, auf denen wir liegenbleiben, mögen wir im afrikanischen Urlaubsabenteuer, nicht aber auf unserem Arbeitsweg in die Frankfurter City.
Sichere Technologie, unsicheres Umfeld
Während die kryptographischen Protokolle (Verschlüsselungstechnologie), auf denen die Kryptowährungen und ICOs beruhen, bisher als sicher gelten, gibt es für Investoren rund um den Erwerb und die Verwahrung hohe operative Risiken, die das Vertrauen in die neuen Instrumente erschüttern. Der Erwerb und Handel von Kryptoassets erfordert heute viel Spezialwissen und hohes Vertrauen in die Betreiber von Diensten, die notwendige Hilfssoftware und die privaten Handelsplätze, an denen Tauschpartner einen börsenmäßig organisierten Handel für Kryptowährungen finden.
Die sich selbst organisierende Community ist bisher nicht in der Lage, die Schlaglöcher der Schotterpiste Kryptohandel zu füllen. Das Vertrauen vieler Investoren wurde in den letzten Jahren oft enttäuscht. Einer der ersten Tauschplätze war der durch seine Insolvenz im Jahr 2014 bekannt gewordene Handelsplatz Mt. Gox . Nutzer verloren Bitcoin im damaligen Gegenwert von einigen Hundert Millionen Euro.
Mittlerweile gibt es Hunderte solcher Handelsplätze. Immer wieder sorgen Probleme bei ihnen, wie jüngst bei Binance oder Kraken , für Kursturbulenzen. Auf der Kryptobörse Coincheck nutzten Hacker eine Sicherheitslücke und entwendeten 500 Mio. Einheiten der Kryptowährung XEM im Wert von etwa 420 Mio. Dollar. Auf Binance versuchten Kriminelle die Handelsschnittstelle zu manipulieren, wie das Branchenmagazin BTC-Echo berichtete.
Wenn bereits etablierte Unternehmen wie Kodak oder Telegram ICOs zur Finanzierung einsetzen wollen, dann finden sich in den Tiefen der Cyberwelt schnell Kriminelle, die ähnliche Webseiten hochziehen, auf denen sie ebenfalls die Token des Unternehmens anbieten. Wollen Interessenten dann Token über diese Fake-Websites erwerben, geht der Gegenwert an die Angreifer und nicht an die eigentlichen Token-Emittenten.
Kein rechtsfreier Raum
Immer wieder gibt es in jüngerer Zeit Probleme mit dem Nichtbefolgen rechtlicher Vorgaben. Entgegen verbreiteter Ansichten bewegen sich ICOs nicht in einem rechtsfreien Raum. Mittlerweile schlagen Aufsichtsbehörden eine Schneise in das undurchsichtige Dickicht der Kryptowelt. Insbesondere der Verstoß gegen gesetzliche Auflagen führte in den letzten Monaten zur Schließung mehrerer solcher Handelsplätze . So haben im März in Japan die Finanzaufsichtsbehörden eine Aussetzung des Handels für zwei Kryptobörsen angeordnet. Die US Wertpapieraufsicht SEC hat ebenfalls im März die in den USA aktiven Handelsplattformen für Kryptoassets zur Registrierung aufgefordert. Sie will die Wildnis einzäunen und fordert die gleichen Registrierungspflichten, wie für traditionelle Börsen. Es ist mittlerweile schwierig für Nutzer geworden, die Folgen solcher Regulierungsaktivitäten abzuschätzen. Das gilt insbesondere dann, wenn nicht einmal klar ist, in welchem Land ein Handelsplatz seinen Sitz hat und welcher Rechtsstandard gilt.
In den Communities wird heftig darüber gestritten, ob Regulierung sinnvoll beziehungsweise überhaupt machbar ist. Handelsplätze und Emittenten können nämlich schnell auf andere Standorte ausweichen. Eine global einheitliche Regulierung dürfte dagegen Jahre dauern. Derweil stecken einige nationale Regulierungsbehörden ihre Claims in den Krypowüsten ab. In Deutschland und der Schweiz haben die jeweiligen Finanzmarktaufsichten ( BaFin und Finma ) hilfreiche Hinweise gegeben, welche Voraussetzungen ICOs erfüllen sollten, damit sie in Einklang mit bestehenden Regeln stehen.
Das macht den Vorbereitungsprozess zwar arbeitsintensiver und damit teurer, reduziert aber für Investoren die Risiken. In der weiteren Diskussion wird man sich fragen müssen, ob die Anwendung der bestehenden Regulierung richtig ist und die Vorschriften kryptogerecht anzupassen sind. Man kann den Schienenverkehr nicht so regulieren, wie den Straßenverkehr, auch wenn beide etwas mit Mobilität zu tun haben.
Professionelle Marktorganisation kann Risiken reduzieren
Viele Risiken ließen sich mit professioneller Marktorganisation und durch erfahrene und vertrauensvolle Dienstleister domestizieren. Traditionelle Banken und Börsen tasten sich aber bisher nur ganz vorsichtig an das Thema. Zu groß ist die Furcht, im Kryptodschungel auf Raubtiere zu treffen. Als Ranger formieren sich derzeit wieder einmal junge Unternehmen, die standardisierte ICOs Plattformen rechtskonform aufbauen wollen. In Frankfurt ist das nach einem Bericht der Börsen-Zeitung die Firma Blockchain Helix. Mit Helix Orange soll ein Business-Portal entstehen, über das registrierte Anleger in die dort angebotenen ICOs investieren können.
Mit der Aufmerksamkeit durch Gesetzgeber, Regulatoren und der Professionalisierung der Marktteilnehmer beginnt für die neuen Finanzierungsinstrumente eine Phase der Zähmung. Bleibt zu hoffen, dass dies nicht gleich wieder zum Aussterben der neuen Gattung führt. Und nicht vergessen werden sollte, dass Kryptowährungen und ICOs nur als einer von vielen Anwendungsbereichen für die Blockchain-Technologie gilt.