Um Kryptowährungen wie Bitcoin und die Schöpfung neuer virtueller Klone auf spezialisierten Börsen ist ein regelrechter Hype entbrannt. Auf jeden Wagniskapitalgeber kommen ein halbes Dutzend obskure Start-ups mit Plänen für ein Initial Coin Offering (ICO). All das erinnert schwer an eine neuzeitliche Variante der Amsterdamer Tulpenkrise.
In all dem Getöse geht die zugrundeliegende Blockchain-Technologie völlig unter. Dabei sind es die scheinbar trivialen Anwendungen des digitalen Registers von Krypto-Transaktionen, die unser Leben am stärksten verändern könnten. Diese Anwendungen finden wir an keiner Börse und sie werden auch niemanden über Nacht reich machen. Aber sie könnten für einige Industriezweige, die so unsexy wie lebenswichtig sind, dringend nötige Veränderungen ermöglichen.
Da sind etwa neue Übertragungswege für Immobilientitel, das Containermanagement im Frachtverkehr, die Herkunftsbestimmung von Konfliktmineralien oder sichere Lieferketten für unsere Nahrung. Vieles mehr ist denkbar. Aber Blockchain könnte tatsächlich nachvollziehbar dokumentieren, dass ein bestimmter Diamant in der Auslage eines Mailänder Juweliers aus einer ganz bestimmten Mine in Russland stammt.
Wovon reden wir also? Im wesentlichen ist Blockchain eine sichere dezentrale Datenbankstruktur, die sich über mehrere Computer erstreckt, von denen jeder Zugang zu derselben Aufzeichnung aller Transaktionen hat. Manipulationen einzelner Blöcke durch einzelne Teilnehmer wären also sinnlos. „Krypto“ steht für die Protokolle, die den Teilnehmern eines Netzes erlauben, sich sicher auszutauschen – etwa um Vermögenswerte zu überweisen – und die den Block einer Transaktion unveränderbar macht, sobald sie abgeschlossen ist.
Vor Betrug geschützter Raum
Aus drei Gründen kann Blockchain die genannten Industriezweige verändern: Zum einen eignet sich die Technologie gut für Transaktionen, die Vertrauen und permanente Nachweise erfordern. Zum anderen beruht Blockchain auf der Kooperation vieler unterschiedlicher Parteien. Wo sie mit offener Software betrieben wird, vermeidet man das Problem der Logik des kollektiven Handelns – wenn Individuen zurückhaltend und nicht im Sinne des Nutzens der Gruppe agieren – im Unterschied zu einem einzelnen Unternehmen, das einen neuen Standard zum eigenen Nutzen einführen würde.
Der dritte Grund ist der erwähnte Hype: Die Aufregung rund um Kryptos schenkt Blockchain die Sichtbarkeit die es braucht, um für Entwickler und Anwender attraktiv zu werden. Das Buzzword kann Unternehmen dazu bringen, groß in die Modernisierung von Verwaltungs- und Logistikprozessen zu investieren, statt weiter nach dem Motto handeln, „so lange nichts kaputt ist, brauche ich nichts reparieren“.
Es verhält sich ein wenig wie mit dem Buzzword Cloud. Die einen sagten, die Cloud sei nichts weiter als der Computer eines anderen. Viele Branchen zogen daraus aber neue Prozesse, neue Geschäftsmodelle für Dienstleistungen, es entstanden disruptive Start-ups, in Unternehmen entwickelten sich neue Abteilungen mit Ökosystemen eigener Technologien. Blockchain hat ein vergleichbares Potenzial.
Nehmen wir die Logistikbranche. Von allen Waren, die der Händler Walmart verkauft, finden sich bereits 1,1 Millionen in einer Blockchain: vom Suppenhuhn zur Mandelmilch. Die Technologie zeichnet die Lieferkette vom Hersteller bis zum Ladenregal nach. Ebenfalls mit Technologie von IBM verfolgt die weltgrößte Containerschiffsreederei Maersk die Verschiffung von Gütern, die dadurch – einschließlich der Zollabfertigung – schneller und leichter wird.
Noch umfassen diese Projekte einen Bruchteil der Nachverfolgung, die diese Unternehmen zu bewältigen haben, doch sie nehmen tendenziell in diesen Organisationen und in ihren Branchen zu. Weitere Lebensmittelhändler und –produzenten, die bereits Blockchain einsetzen, sind Kroger, Nestlé, Tyson Foods und Unilever, berichtet Bridget van Kralingen, die zuständige Vizepräsidentin bei IBM. Viele weitere würden bald bekannt werden.
Mit digital vernetzten Sensoren auf Paletten hat Cartasense aus Tel Aviv neue Analysemethoden in der Luft- und Seefracht eingeführt, die Hinweise darauf geben, ob Güter verspätet oder beschädigt sein könnten. Seit acht Jahren nutzen Cartasense-Kunden eine Datenbank, die den Fluss von Paketen auf Paletten in Container verfolgt, statt mit physisch unterschriebenen und gescannten Transportdokumenten zu hantieren. Unter den Kunden ist auch Weltmarktführer Kuehne + Nagel, der gerade stark in Blockchain, Predictive Analytics, Künstliche Intelligenz und Robotik investiert.
Mit der Absicht, ein Blockchain-basiertes Register mit jedem je zertifizierten Diamanten dieser Welt zu erstellen, hat sich vor drei Jahren das Unternehmen Everledger gegründet. Es hat bislang 2,2 Millionen Diamanten erfasst und fügt jeden Monat rund 100.000 hinzu. Laut Gründungsdirektorin Leanne Kemp werden von jedem Stein 40 verschiedene Eigenschaften aufgezeichnet, darunter auch solche, die „physisch nicht zu klonen sind“. Der Weg wird von der Fundstelle bis zum Verbraucher dokumentiert. Über seinen Knoten kann jeder Teilnehmer im Everledger-Netzwerk, vom Bergarbeiter über den Schleifer bis zum Einzelhändler, eine vollständige Kopie der Datenbank einsehen.
Millionenstadt Dubai setzt auf Blockchain
Es sind vor allem Unternehmen oder Regierungen, die Technologien rasch einführen können, um die Blockchain in ihre Systeme zu integrieren. So hat die Wüstenstadt Dubai erklärt, sie wolle „bis 2020 die erste Blockchain-gestützte Regierung der Welt“ sein. Das könnte vor allem auf dem Immobilienmarkt vieles vereinfachen, erwartet Stephen McKeon, Blockchain-Experte und Professor für Finanzen an der Universität Oregon.
Wenn die Schlüsseldokumente von Immobiliengeschäften auf Blockchain übertragen werden, könnte die größte Stadt der Vereinigten Arabischen Emirate Eigentumstitel schneller und einfacher übertragen. Da „intelligente Verträge“ auf einer Blockchain verschlüsselt sind, können sie auch Regeln enthalten, wie sie individuell verändert oder weitergegeben werden können. So ginge die Kontrolle der Pflichterfüllung von Bürokraten auf Computer über. Um Betrug vorzubeugen, könnten Eigentumsrechte nur auf bestimmte Konten und nur unter bestimmten Bedingungen übertragen werden – wie etwa nach einer Überweisung an einen Treuhänder.
Ob Blockchain sich als Technologie oder Bewegung am Ende durchsetzt und Hürden nehmen wird, an denen Generationen von Softwareingenieuren gescheitert sind, ist noch nicht ausgemacht. Skeptisch darf stimmen, dass Blockchain schrittweise wächst und nicht abräumt wie eine Revolution. Bisweilen geht es um ein bloßes Marketingetikett für Systeme, die sich kaum von herkömmlichen Datenbanken unterscheiden. (Es gibt eine Debatte über die Frage, was Blockchain eigentlich bedeutet, und sogar Firmen wie Cartasense nennen ihr System eine „Blockchain-ähnliche Technologie“.)
Aber wo es funktioniert, kann das Potenzial der Technologie, die grundlegenden Fortschritt bringt, eingelöst werden – so wie neue Standards für Datenübermittlung in Netzwerken zum Internet führten. Ganz konkret könnte es zur Basis alltäglicher Abläufe werden: wie wir wählen, mit wem wir uns online verbinden, was wir einkaufen.
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