Anfang April kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, der Gasgigant Gazprom verlange die Bezahlung für die Lieferungen an die Ukraine ab sofort einen Monat im Voraus. Die britische Zeitung The Observer veröffentlichte daraufhin einen treffenden Cartoon, der Putin auf einem Thron aus Schwertern zeigt, wie er mit der Bemerkung „Der Winter kommt“ der Ukraine den Gashahn zudreht. Der Hintergrund ist dunkelrot, und Putins Brust wird durch Hammer und Sichel sowie einen Totenkopf verziert. Zumindest für manche ist der Kalte Krieg tatsächlich zurück.
Aber bevor wir in einen zweiten Kalten Krieg abdriften, sollten wir uns daran erinnern, wie es zum ersten kam. Ein wichtiger Grund dafür fiel mit dem Ende des Kommunismus weg: der sowjetische Expansionismus und der entschlossene Widerstand der westlichen Demokratien dagegen Widerstand zu leisten. Aber andere Gründe bleiben bestehen.
Der amerikanische Diplomat George F. Kennan stellte auf russischer Seite neurotische Unsicherheit und orientalische Geheimniskrämerei fest, und auf amerikanischer Seite Legalismus und Moralismus. Bis zum heutigen Tag sind kühle Abwägung von Interessen, Möglichkeiten und Risiken eher die Ausnahme.
„Eindämmung“ der sowjetischen Aggression
Kennan wird – zumindest im Westen – als der intellektuelle Initiator des Kalten Krieges gesehen und ist für sein „langes Telegramm“ aus Moskau vom Februar 1946 sowie seinen Artikel in Foreign Affairs vom Juli 1947 bekannt, den er mit „X“ signierte. Er war der Ansicht, langfristiger Friede zwischen dem kapitalistischen Westen und dem kommunistischen Russland sei aufgrund der Mischung traditioneller russischer Unsicherheit mit Stalins Bedürfnis nach einem äußeren Feind und kommunistischem Missionsgeist unmöglich.
Russland, argumentierte Kennan, wolle den Zusammenbruch des Kapitalismus nicht durch einen bewaffneten Angriff herbeiführen, sondern durch eine Mischung von Schikane und Subversion. Die richtige Antwort darauf sollte seiner Meinung nach in der „Eindämmung“ der sowjetischen Aggression durch „geschickte und umsichtige Anwendung von Gegengewalt“ liegen.
Während der Amtszeit von Präsident Harry Truman schlussfolgerten US-Beamte aus Kennans Sichtweise die Notwendigkeit des Aufbaus eines militärischen Schutzes gegen eine mögliche kommunistische Invasion Westeuropas. Dies führte zur Truman-Doktrin, aus der wiederum die Logik militärischer Konfrontation, der Nato und des Wettrüstens folgte.
Kennan selbst war über diese Entwicklungen entsetzt und behauptete, Eindämmung dürfe nicht militärisch erfolgen, sondern müsse im wirtschaftlichen und politischen Bereich stattfinden. Er war einer der Hauptinitiatoren des Marshall-Plans nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit der Nato-Gründung war er nicht einverstanden.
Fehler des Westens
Nach Stalins Tod hoffte Kennan auf fruchtbare Verhandlungen mit einem „milderen“ sowjetischen System unter Nikita Chruschtschow. Er bereute immer mehr die Auswirkungen der zweideutigen Sprache des „langen Telegramms“ und seines „X“-Artikels und beklagte sich, Demokratien könnten Außenpolitik nur auf der „primitiven Ebene von Slogans und chauvinistischer ideologischer Inspiration“ betreiben.
Rückblickend könnte man fragen, ob die Nato oder die wirtschaftliche und politische Unterstützung der USA Westeuropa davon abgehalten hat, kommunistisch zu werden. Auf jeden Fall haben sich beide Seiten selbst davon überzeugt, die jeweils andere Seite stelle eine existenzielle Bedrohung dar, und beide haben zu ihrer Sicherheit enorme Waffenarsenale aufgebaut.
Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion folgte auf jede kurze Entspannungsphase ein neuer Aufrüstungszyklus. Dies alles hatte einen Geschmack von Irrsinn und lässt den beunruhigenden Gedanken zurück, die Nato habe das Leben der Sowjetunion vielleicht dadurch verlängert, dass sie ihr einen Feind geliefert hat, der an die Stelle von Nazideutschland treten konnte.
Um zu verstehen, wie die Russen heute über die Ukraine denken, muss man die Ereignisse durch diese Brille sehen. Nach seinem „Sieg“ im Kalten Krieg hat der Westen den schweren Fehler gemacht, Russland keinerlei Art von regionaler Hegemonie zu gewähren – nicht einmal in Ländern wie der Ukraine oder Georgien, die einst Teil des historischen russischen Staates waren.
Mit Russland reden und zuhören
Stattdessen hat der Westen unter der Fahne von Humanität und Menschenrechten aktiv versucht, die ehemals sowjetischen Staaten aus dem russischen Herrschaftsbereich heraus zu lösen. Viele von ihnen waren nur zu gern bereit, dem Einfluss des Kremls zu entkommen. Die Nato erweiterte sich Richtung Osten nach Zentraleuropa in den ehemaligen sowjetischen Block hinein und mit der Aufnahme von Estland, Lettland und Litauen sogar in die ehemalige Sowjetunion selbst. 1996 warnte der 92-jährige Kennan, die Expansion der Nato in das ehemalige Sowjetgebiet sei ein „strategischer Fehler potenziell epischen Ausmaßes“.
Diese Vorstöße des Westens förderten zweifellos die russische Paranoia, die sich heute in vom Kreml angeheizten Verschwörungstheorien über die Ukraine widerspiegelt. Und im Einklang mit Kennans Warnung vor einer Außenpolitik, die „utopisch in ihren Erwartungen sowie legalistisch, moralistisch und selbstgerecht in ihrer Umsetzung“ ist, sollte das Ziel der heutigen westlichen Politik sein, Mittel zur Zusammenarbeit mit Russland zu finden, um die Spaltung der Ukraine zu verhindern.
Das bedeutet, mit den Russen zu reden und ihnen zuzuhören. Die Russen haben ihre Ideen zur Lösung der Krise vorgestellt. Allgemein ausgedrückt stellen sie sich eine „neutrale“ Ukraine nach finnischem Modell mit einem föderalen Staatswesen nach Schweizer Vorbild vor. Der erste Punkt würde eine Nato-Mitgliedschaft ausschließen, aber eine EU-Mitgliedschaft wäre möglich. Der zweite Punkt zielt darauf ab, semiautonome Regionen zu schaffen.
Solche Vorschläge sind vielleicht zynisch oder nicht durchführbar. Aber anstatt in moralistische Empörung über die russischen Aktionen zu verfallen, sollte der Westen sie umgehend prüfen, ausloten und verfeinern.
Gefangen zwischen Paranoia und Moralismus hat vernünftige Diplomatie einen schweren Stand. Aber unsere Politiker sollten nicht erst durch den hundertsten Jahrestag des zweitblutigsten Krieges in der Geschichte daran erinnert werden, dass kleine Ereignisse unwiderruflich außer Kontrolle geraten können.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff
© Project Syndicate 1995–2014