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Neuer Finanzminister Kehrt die Türkei jetzt zur ökonomischen Vernunft zurück?

Der jüngst berufene türkische Finanzminister Mehmet Simsek (links) und sein Vorgänger Nureddin Nebati bei der Amtsübergabe in Ankara
Der jüngst berufene türkische Finanzminister Mehmet Simsek (links) und sein Vorgänger Nureddin Nebati bei der Amtsübergabe in Ankara
© picture alliance / AA | Harun Ozalp
Die Rückkehr des langjährigen Finanzministers Mehmet Simsek schürt Erwartungen, dass die Türkei einen Ausweg aus der schweren Wirtschaftskrise findet. Aber unter Präsident Erdogan garantiert ein neuer Minister noch keine Wende

Die Talfahrt der türkischen Lira seit der Wiederwahl von Präsident Recep Tayyip Erdogan konnte die Ernennung des neuen Finanzministers nicht unmittelbar stoppen. Dabei hat Mehmet Simsek, der schon zwischen 2009 und 2018 zwei Regierungen unter Erdogan angehörte, in seiner ersten Erklärung so ziemlich alles erklärt, was die Finanzmärkte gerne hören wollten: Der frühere Merill-Lynch-Ökonom bekannte sich zu Finanzstabilität, dem Kampf gegen Inflation, Rechenschaftslegung und Transparenz sowie zu Haushaltsdisziplin. Eines der klingendsten Zauberwörter aber, die er nannte, war die „rationale Politik“.

Damit schürt die Neubesetzung hohe Erwartungen, dass mit der Person Simsek auch die vom türkischen Präsidenten durchgesetzte irrationale – von Ökonomen zumindest „unorthodox“ genannte – Politik des billigen Geldes für Haushalte und Unternehmen in Zeiten überbordender Inflation ein Ende finden könnte. Seit Jahren hatte Erdogan aufeinanderfolgende Zentralbanker unter Druck gesetzt, die Zinsen niedrig zu halten, um die Volkswirtschaft über Kredite zu beleben, während eine Hyperinflation der Bevölkerung die Kaufkraft stahl.

Die Teuerungsrate lag kurz vor der Wahl offiziell bei etwa 40 Prozent, nach einem 24-Jahreshoch von 85 Prozent noch im Herbst vergangenen Jahres, und Experten gehen auch heute real von einem Vielfachen aus. Im Mai hatte Erdogan vor der Parlaments- und Präsidentenwahl privaten Haushalten sogar noch die Gasrechnung erlassen, um den Wert statistisch von 44 Prozent im April nach unten zu drücken. Die Lira verlor zum Dollar in der Spanne eines Jahrzehnts mehr als 90 Prozent an Wert, die letzte akute Währungskrise erschütterte das Land 2021.

Vertrauensvorschuss für Simsek?

Nun also die Personalie, die den möglichen Hoffnungsstreifen einer Rückkehr zur ökonomischen Vernunft und einem Gegensteuern zur Krise signalisiert – vorausgesetzt, der neue Kassenwart bekommt einen gleichgesinnten und unabhängigen Zentralbankchef zur Seite, und der Autokrat Erdogan lässt beiden die erforderliche Beinfreiheit, um die Ursachen der schweren wirtschaftlichen Verwerfungen anzugehen. „Simsek muss eine Chance bekommen“, twitterte der Schwellenländeranalyst und langjährige Türkei-Beobachter Timothy Ash. „Er ist ein guter Ökonom und ein ehrlicher Mensch.“

Konkret kündigte Simsek unmittelbar an, dringende Schritte einleiten zu wollen, um mittelfristig zu einstelligen Inflationsraten zurückzukehren. „Um nachhaltige Entwicklung zu erzielen, geben wir Haushalts- und Preisdisziplin oberste Priorität“, sagte er in Ankara. Das Land habe keine andere Wahl, als mit einer regelbasierten berechenbaren Volkswirtschaft wieder auf den Boden rationaler Politik zu gelangen. Eine solche würde zügig die Zinsschraube anziehen und ein ausuferndes Haushaltsdefizit eindämmen. Als Finanzminister und Vizepremier stand der Ökonom für eine glaubwürdige Stabilitätspolitik. Bis 2018 Erdogan auch die Funktion des Regierungschefs übernahm.

Seither wurde die Geldentwertung – verbunden mit wiederholten Stützungskäufen zugunsten der Lira durch die Zentralbank – das zentrale Instrument gegen schwere Ungleichgewichte. Die Devisenreserven sind nun erschöpft: Experten sprechen von Bruttoreserven in Höhe von 100 Mrd. Dollar, dem niedrigsten Stand seit 2002, während die Zentralbank netto unter Null angelangt sei. Der externe Finanzierungsbedarf wird mit 203 Mrd. Dollar beziffert. In der Vergangenheit hieß es wiederholt, die Regierung Erdogan habe „durch die Hintertür“ Geldquellen in Russland und Katar angezapft. Das Außenhandelsdefizit ist, vor allem aufgrund einer hohen Importnachfrage (besonders nach Konsumgütern), in den ersten fünf Monaten dieses Jahres auf beispiellose 56 Mrd. Dollar angewachsen. 

Das Wachstum war zuletzt getrieben vom Dienstleistungssektor und dem Baugewerbe, aber vor allem vom privaten Konsum – welcher jedoch in alarmierendem Maß kreditfinanziert wird. Zu dieser „übermäßig konsumptiven Wirtschaftsstruktur“ trage ein zunehmend verschuldeter Staat erheblich bei, analysiert der türkische Wirtschaftsprofessor Tahsin Bakirtas im Wirtschaftsdienst PA Turkey. Demnach schwoll das öffentliche Haushaltsdefizit von Januar bis April 2023 im Vergleich zur Vorjahresperiode um sensationelle 1870 Prozent auf 383 Mrd. Lira an.

Schweres Erbe für den neuen Finanzminister

Ob der 56-jährige Simsek nun den schmalen Grad nutzen wird, den er dem „Zinsfeind“ Erdogan für die Amtsübernahme vermutlich abgerungen hat, um nach unzähligen Wahlgeschenken für Anhängermilieus der Regierungspartei zu einer konsequenten Austeritätspolitik zurückzukehren, muss sich zeigen. Vor der Kabinettsneubildung gab es offenbar wiederholte Treffen zwischen ihm und dem Präsidenten. Vizepräsident wird zudem Cevdet Yilmaz, der auch als Anhänger einer „orthodoxen“ Wirtschafts- und Finanzpolitik gilt.

Skeptische Stimmen erwarten dennoch einen begrenzten Handlungsspielraum für den neuen Finanzminister. „Es sieht so aus, als ob Erdogan den Vertrauensschwund in seine Fähigkeit als wirtschaftlicher Krisenmanager ernst nimmt“, folgert Emre Peker vom Thinktank Eurasia Group gegenüber Reuters. „Aber während Simseks Wahl wohl eine Krise hinauszögern kann, sind langfristige Korrekturen zugunsten der Volkswirtschaft eher nicht zu erwarten.“ Wie der Ökonom Bakirtas nimmt Pekter dabei auch schon die im März 2024 anstehenden Kommunalwahlen in den Blick, die Gegenwind bedeuten können.

Während Bakirtas das Konsummodell auf der Grundlage immer größerer Kreditvergabe und den Zugang zu benötigten ausländischen Finanzmitteln erschöpft sieht, hält er zugleich eine konsequente Kurswende eben wegen dem nächsten Wählertest für unwahrscheinlich. Womöglich gelinge es Simsek, die Kapitalmärkte freundlicher zu stimmen und Risikoprämien auf Staatsanleihen zu drücken. Aber für eine populistische Regierung, die sich schon in weniger als einem Jahr Kommunalwahlen stellen müsse, sei eine solche Wende – die Haushalten und Unternehmen einen hohen Preis abverlange – sehr schwer zu vollziehen.

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