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Israelische Start-ups Kampf gegen die Hamas: Der schwierige Spagat von Israels Tech-Elite

Israelische Soldaten bei den Golan-Höhen
Etliche Start-up-Mitarbeiter befinden sich mittlerweile im Militärdienst
© Dima Vazinovich/Middle East Images/ABACAPRESS.COM / Picture Alliance
Die Tech-Branche gehört zu den wichtigsten Pfeilern der israelischen Wirtschaft. Jetzt aber sind viele Start-up-Mitarbeiter eingezogen worden. Das hat nicht nur Folgen für die Unternehmen, sondern auch die Gesamtwirtschaft

„Ich habe eine Waffe auf den Knien, ich habe einen Helm auf dem Kopf, und ich habe eine Weste.“ Mit diesen Worten zitiert die „Washington Post“ den israelischen Unternehmer Or Shoval. „Aber wenn ich eine halbe Stunde warten muss, dann arbeite ich eine halbe Stunde“, sagt der Gründer des Medizin-Start-ups Remepy . Für etliche Mitarbeiter der israelischen Tech-Branche besteht der Alltag nach dem brutalen Angriff der Hamas aus einem schwierigen Spagat: Einerseits verteidigt die Belegschaft ihre Heimat. Andererseits sollen dabei die Geschäfte nicht auf der Strecke bleiben. Mit immer mehr Angestellten an der Front ist das allerdings nur schwer zu schaffen. Von Shoyels Team hat das Militär inzwischen eigenen Angaben zufolge 15 Prozent eingezogen.

„Die Folgen des Hamas-Angriffs auf die Tech-Industrie sind verheerend“, konstatiert die stellvertretende Geschäftsführerin Charme Rykower von der Deutsch-israelischen Industrie- und Handelskammer (AHK) in Tel Aviv im Gespräch mit ntv.de. „Der Branche setzen nicht nur die fehlenden Arbeitskräfte durch die Mobilisierung und der anhaltende Raketenbeschuss zu.“ Darüber hinaus besonders gravierend: „Momentan sind die Investments von ausländischen Investoren komplett zum Erliegen gekommen.“ Die Hightech-Industrie verzeichnet offiziellen Angaben zufolge Umsatzeinbußen in Höhe von 70 Prozent.

Das Beispiel von Remepy ist kein Einzelfall. Etliche Start-up-Mitarbeiter befinden sich mittlerweile im Militärdienst. Ronen Nir, Geschäftsführer des israelischen Büros der US-amerikanischen Risikokapitalgesellschaft PSG Equity, schätzt: Zwischen 10 und 15 Prozent der Technologiearbeiter haben inzwischen ihr Büro gegen die Front getauscht. Das entspricht etwa 60.000 der 400.000 Menschen, die in den High-Tech-Unternehmen des Landes beschäftigt sind. Insgesamt hat die israelische Armee bereits 360.000 Menschen eingezogen. „Unter den verbleibenden Mitarbeitern ist die Moral schlecht, oder sie haben einfach keinen Kopf für die Arbeit“, zitiert das israelische Wirtschaftsmagazin „Globes“ Nir.

Einberufung bedroht auch israelische Wirtschaft

Anders als Start-ups mit oftmals wenigen Angestellten können große Unternehmen die Einberufung ihrer Mitarbeiter zum Reservedienst besser kompensieren. „Sie verfügen bereits über ein Support-Netzwerk für ausländische Kunden, und ihre Vertriebsmitarbeiter sind oft im Ausland“, sagt Adam Fisher, Partner im Tel Aviver Büro des US-Risikokapitalunternehmens Bessemer Venture Partners, „Globes“. „Selbst wenn sich die Entwicklung um ein paar Wochen verzögert, ist das für große Unternehmen kein großer Schlag.“ Aber für ein kleines Unternehmen mit 15 Mitarbeitern, in dem der Geschäftsführer und drei Ingenieure einberufen wurden, könne der Schlag tatsächlich sehr hart sein.

Denn die Einberufung von Mitarbeitern hat nicht nur direkte Konsequenzen für die Start-ups selbst. Sie ist auch eine Bedrohung für die israelische Wirtschaft, die unmittelbar von der äußerst wettbewerbsfähigen Hightech-Industrie profitiert. Laut einem Bericht der israelischen Innovationsbehörde erwirtschaftet der Sektor 18 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, 50 Prozent der Exporte und 30 Prozent der Einkommenssteuern.

Ungeachtet dessen sieht der Juraprofessor und Direktor des Brandeis Instituts für Gesellschaft, Wirtschaft und Demokratie Ido Baum im Gespräch mit ntv.de keinen Grund zur Sorge für die israelische Gesamtwirtschaft. „Da die Start-up-Branche wissensbasiert ist und oft nicht die physische Anwesenheit der Beschäftigten am Arbeitsplatz erfordert, wird sie wahrscheinlich am wenigsten vom Krieg betroffen sein.“ Das sei auch während der Covid-19-Pandemie schon deutlich geworden. „Offensichtlich werden sich einige Dienstleistungen und Projekte verzögern, aber das wird keine langfristigen Auswirkungen haben.“ Dem stimmt auch Rykower von der AHK zu. „Die israelische Wirtschaft hat sich bislang immer als besonders widerstandsfähig erwiesen“, blickt sie optimistisch in die Zukunft. Israelis seien Meister beim Bewältigen von Krisen, aber auch in kreativen Lösungen. „Daher besteht eine gute Chance, dass wir trotz der extremen Bedrohungslage demnächst wieder innovative Geschäftsmodelle 'Made in Israel' sehen.“

Staat greift Start-ups unter die Arme

Nichtsdestotrotz hat die israelische Innovationsbehörde bereits besondere Maßnahmen für Start-ups angekündigt, die aufgrund des Kriegsausbruchs an ihre Grenzen stoßen. Demnach stehen etwa 100 israelischen Unternehmen etwa 100 Mio. Schekel (umgerechnet 23 Mio. Euro) zur Verfügung, die Schwierigkeiten haben, von Investoren finanzielle Unterstützung zu bekommen. Das Geld soll es dem Sektor ermöglichen, nach Kriegsende schnell wieder auf den Wachstumspfad zurückkehren.

Dass Investoren ihr Vertrauen in Israel verlieren, hält Baum für unwahrscheinlich. Er mutmaßt, dass internationale Geldgeber im vergangenen Jahr besorgter über die antidemokratischen Entwicklungen in der israelischen Regierung waren als über den Krieg. „Das Vertrauen der Investoren in Israel ist für die nächste Zeit zumindest zerrüttet“, räumt Rykower hingegen ein. Wenn dieser Krieg allerdings regional und zeitlich begrenzter bleibt, sieht sie weder mittelfristig noch langfristig, dass sich Investoren aus dem Land zurückziehen werden.

Der Beitrag ist zuerst bei ntv.de erschienen

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