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Kolumne Kalorien zählen nervt

Wir alle brauchen ständig neue Technik. Georg Dahm lotst uns durch den digitalen Dschungel. Diesmal geht es um Selbstvermessung
Schrittzähler Withings „Pulse O₂“
Schrittzähler Withings „Pulse O₂“

Als Kind der 70er-Jahre habe ich ein Faible für Katastrophenszenarien. Atomtod. Artensterben. Allesmachtkrebs. Und natürlich: der Überwachungsstaat in allen Formen. Etwa DER GLÄSERNE PATIENT, dieses in seinen Lastern und Leiden entblößte Opfer einer unheiligen Allianz von Versicherungen, Arbeitgebern und kopfschüttelnden Nachbarn.

Nun tut sich das Gesundheitswesen sehr schwer mit der Umsetzung dieser Vision, wie jeder merkt, der versucht, einen Befund von Arzt zu Arzt übermitteln zu lassen. Wenn man dem Soziologen Stefan Selke glaubt, sind hier aber große Fortschritte zu erwarten, weil viele von uns in vorauseilendem Gehorsam alle Befindlichkeiten offenlegen.

Digitale Protokollführung

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Georg Dahm ist Technik- und Wissenschaftsjournalist

Wer eine vernetzte Waage hat; wer Trainingsläufe mit Sport-Apps aufzeichnet; wer seinen Büro­hintern mit einem digitalen Schrittzähler anstachelt; wer auf dem Smartphone Alkoholkonsum und Allergien protokolliert; wer seine Daten in den Gesundheitsportalen kalifornischer Start-ups sammelt oder neuerdings gleich bei Samsung und Apple – der hat die Ideale der Leistungs­gesellschaft zu tief verinnerlicht und nimmt die Gesundheitsdiktatur vo­raus, schreibt Selke in seinem Buch „Lifelogging“. Es ist eine übellaunige Auseinandersetzung mit allen Arten der digitalen Protokollführung. Der Selbstvermesser, meint Selke, verliere über die Daten das Gefühl für sich selbst. Noch weiter geht die Schriftstellerin Juli Zeh: „Genau wie die Magersüchtige führt auch der Selbstvermesser einen Kampf gegen den eigenen Körper“, schreibt sie in ihrem Essay „Der vermessene Mann“.

Puh. An meinem Handgelenk summt gerade der „Jawbone Up24“. Ich habe den Schrittzähler so eingestellt, dass er mich alle 30 Minuten daran erinnert, vom Bürostuhl aufzustehen. Meine Bewegungsdaten gehen per Bluetooth an die Smartphone-App, in der ich auch meinen Schlafrhythmus sehe. Und meinen voraussichtlichen Koffeinpegel zur Schlafenszeit. Ich könnte in der App auch meine Ernährung protokollieren. Tue ich aber nicht, weil Kalorien zählen nervt. Ich brauche nur eine Weile Anstöße, um mich in einer Stresszeit wieder auf einen gesünderen Rhythmus einzupegeln. Und dann zurück in die Schublade damit.

Kontrollierter Umgang

Wie jede neue Variante der Digitaltechnik hat auch die Selbsterfassung ihre Süchtigen. Ich glaube aber, dass man kontrolliert und spielerisch mit diesen Werkzeugen umgehen kann – und Probleme angehen, die unbestreitbar da sind. Dass chronisch Kranke Selbsterfassung nutzen können, um ihren Körper besser zu verstehen und zu behandeln, gesteht auch Selke ein – nicht ohne nachzuschieben, dass doch nur der ganzheitliche Blick des Arztes zähle. Bloß: Sagen Sie das mal einem Diabetiker.

In Selkes zum Teil haarsträubenden medizinischen Ausführungen schlägt seine kritische Haltung endgültig um in ein alles niederwalzendes Mahnergehabe. Wer jedoch das und Selkes Soziologendeutsch erträgt, lernt in „Lifelogging“ trotzdem einiges über einen Technikbereich, über den wir alle mehr nachdenken sollten.

Messgeräte

Wer seine Bewegung im Blick behalten will, fährt mit allen gängigen Schrittzählern gut – wenn er keine wissenschaftliche Präzision erwartet: „Fitbit Flex“ (ca. 100 Euro, fitbit.com), „Jawbone Up24“ (ca. 150 Euro, jawbone.com), „Garmin Vivofit“ (ca. 120 Euro, ­garmin.com) oder Withings „Pulse O₂“ (ca. 120 Euro, withings.com) zeichnen ähnliche Aktivitätskurven, auch wenn sie bei den Schrittzahlen schon mal um ein paar Tausend auseinanderliegen.
Alle vier sind Armbänder – es gibt aber auch Geräte, die in der Tasche verschwinden, etwa ­„Medisana Vifit Connect“ (ca. 100 Euro, medisana.de). Das Einweg-Sensorpflaster „Metria“ klebt sogar einfach auf dem Trizeps, wo es eine Woche lang Daten sammelt (ca. 100 Euro, scorefit.de). Alle Sensoren messen nachts, wie stark sich der Schläfer wälzt – und errechnen (recht unterschiedliche) Tief- und Leichtschlafzeiten. Zum Lesen: Stefan Selke, „Lifelogging“ (Econ-Verlag, 19,99 Euro)

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