Für japanische Politiker und Bürger war die brutale Annexion der Krim durch Wladimir Putin eine nicht überraschende Rückkehr zum normalen Paradigma der russischen Geschichte. Für die meisten Japaner ist dafür ein expansionistisches Gen in der politischen DNA Russlands verantwortlich, gar nicht so sehr Putin selbst oder die Details der Ukraine-Krise.
Japan ist besonders besorgt wegen des russischen Expansionismus, weil es das einzige G7-Land ist, das sich derzeit mit Russland um ein Gebiet streitet. Russland hält die Nördlichen Territorien Japans seit den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs besetzt. Diese Besetzung begann zwischen dem 28. August und dem 5. September 1945, als die Sowjetunion das damals geltende Neutralitätsabkommen mit Japan brach und nicht nur die von Japan besetzte Mandschurei überfiel, sondern auch die südlich gelegene Insel Sachalin und die ur-japanischen Inseln Iturup, Kunaschir, Schikotan sowie die Chabomai-Inselgruppe.
Stalin war besorgt, dass die Amerikaner mit der Entwicklung und dem Atomwaffeneinsatz gegen Japan der Sowjetunion die Chance auf territoriale Zugewinne im Osten nehmen würde. Daher befahl er der Roten Armee die Invasion. Japan hatte jedoch bereits die Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki erlebt und am 14. August die Potsdamer Erklärung unterzeichnet. Der Krieg war also bereits beendet, als die Rote Armee einmarschierte.
Seitdem stehen diese Inseln unter Kontrolle der Sowjetunion bzw. deren Nachfolgerstaat Russland. Und wie anderswo in Russland, sind die Einwohner durch beständige Inkompetenz und korrupte Regierungen verarmt, egal, ob Kommunisten oder die heutige kapitalistische Vetternwirtschaft an der Macht sind.
Ukrainer wurden umgesiedelt
In einer merkwürdigen historischen Wendung angesichts der Annexion der Krim wurden viele Ukrainer zu Zeiten der Sowjetunion auf die Inseln umgesiedelt, nachdem die ursprünglichen japanischen Einwohner getötet oder vertrieben worden waren, und sie leben noch heute dort. Würde ein Referendum zur Unabhängigkeit von Iturup abgehalten, wo ungefähr 60 Prozent der Einwohner Wurzeln in der Ukraine haben, ist es fraglich, ob Putin das Ergebnis so schnell akzeptiert hätte wie das auf der Krim, bei dem ein Gewehrlauf Pate stand.
Nachdem er Ende 2012 an die Macht gekommen war, versuchte der japanische Premier Schinzo Abe, die Beziehungen zu Putin zu verbessern, in der Hoffnung auf ernsthafte Gespräche über die Nördlichen Territorien. Aber jetzt, da Putin keinen Zweifel an seinem Projekt der Wiederherstellung des russischen Imperiums gelassen hat, sind diese Hoffnungen zerstoben.
Also verurteilte Abe die Krim-Annexion und nannte sie „eine Verletzung der Integrität der Ukraine, ihrer Souveränität und ihres Territoriums“. Abe fügte hinzu, dass „Versuche, den Status Quo mit Gewalt zu ändern, nicht ignoriert werden dürfen“ und dass Japan zusammen mit der G7 über weitere Wirtschaftssanktionen gegen Russland nachdenke.
Unnötig zu sagen, dass diese Bemerkungen die Tatsache unterstrichen, dass China japanisches Territorium und Hoheitsgewässer im Ostchinesischen Meer „mit Gewalt“ bedroht. Die Lektion ist, dass Japan in Bezug auf territoriale Streitigkeiten keinen Kotau machen darf, wenn „versucht wird, den Status Quo per Gewalt zu verändern“.
Chinas stillschweigendes Einverständnis
Die chinesische Reaktion auf die Krise in der Ukraine war besonders aufschlussreich. Drei Jahrzehnte lang hat China die „Nichteinmischung“ in die internen Angelegenheiten von souveränen Staaten als die wichtigste Regel ihrer internationalen Beziehungen gepredigt. Aber als Putin in die Ukraine einmarschierte, hat China bewiesen, wie wenig ernst es dieses Prinzip tatsächlich nimmt. Anstatt Russland für die Annektierung der Krim zu verurteilen, hat es sich im UN-Sicherheitsrat enthalten und eher die neugewählte Regierung der Ukraine kritisiert als Putins rowdyhaftes Benehmen.
Jedes Land in Asien kann nur eine Schlussfolgerung aus Chinas stillschweigenden Einverständnis mit Putins Landnahme auf der Krim ziehen: Auch China glaubt an das Recht des Stärkeren und wird vor nichts zurückschrecken. Wenn es glaubt, Land im südchinesischen Meer oder im indischen Himalaya einnehmen zu können, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen, wird es das auch tun. Daraus folgt, dass die asiatischen Länder ihre Verteidigung stärken müssen, um eine wirkungsvolle Abschreckung aufzubauen und sich zusammentun müssen, um die Einhaltung des Völkerrechts zu fordern, damit China versteht, dass jede Landnahme à la Putin schwere wirtschaftliche Folgen haben wird.
In der unmittelbaren Zukunft arbeitet Japan mit der G7 zusammen, um sicherzustellen, dass Putins rücksichtslose Ambitionen nicht auch noch andere Teile der Ukraine gefährden. Japan hat bereits ein wirtschaftliches Hilfspaket von 1,5 Mrd. Dollar für die Ukraine verabschiedet, bisher das größte von einem einzelnen Land, einschließlich der USA.
Vor der Krim-Invasion zeigten die territorialen Verhandlungen zwischen Japan und Russland Anzeichen von Erfolg. Es gab sogar verschiedene bilaterale Anstrengungen hinsichtlich einer Wirtschaftskooperation etwa Projekte im Zusammenhang mit Flüssiggas.
Japan muss sich wappnen
Aber jetzt ist nicht nur klar, dass Putin Russland zurück in die Stagnation der späten Sowjetära schickt, sondern auch, dass er sich dem Motto des früheren sowjetischen Staatschef Breschnew verschrieben hat: „Was wir haben, behalten wir“. Also war Putins Reden davon, eine Vereinbarung mit Japan über die Nördlichen Territorien zu erzielen, genauso verlogen wie seine Behauptung, die Krim sei gefährdet und bedürfe daher des Schutzes durch russische Truppen.
Noch wichtiger: Japan versteht, dass business as usual mit einem aggressiven Russland, das das Völkerrecht missachtet, Andere in größerer Nähe dazu bringen könnte, Putins gesetzlose Taktiken nachzuahmen. Die Zeiten der Nabelschau in Japan sind zu Ende. Japan sieht jetzt Bedrohungen seiner eigenen Sicherheit in der Welt und wird dementsprechend handeln.
Aus dem Englischen von Eva Göllner.
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