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Grünen-Chef Nouripour „Kein Mensch versteht, warum Geflüchtete nicht arbeiten dürfen“

Omid Nouripour ist seit Februar 2022 gemeinsam mit Ricarda Lang Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen
Omid Nouripour ist seit Februar 2022 gemeinsam mit Ricarda Lang Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen
© Ute Grabowsky/photothek / IMAGO
Die Grünen quälen sich mit der Migrationspolitik. Im Interview wehrt sich der Vorsitzende Omid Nouripour gegen Klischees über seine Partei – und spricht über Gewalt im Wahlkampf

Herr Nouripour, wann waren Sie zuletzt in einer Flüchtlingsunterkunft? 
OMID NOURIPOUR: Vor drei Wochen.

Im zentralen Ankunftszentrum in Berlin schlafen Flüchtlinge laut Berichten schon im Dienstgebäude der Mitarbeiter.
Es gibt viele Kommunen, die am Limit sind. Es fehlt an Wohnraum, es fehlt an Personal.

Was sagen solche Berichte über den Zustand der deutschen Migrationspolitik?
Wir müssen aufpassen, unsere Fehler nicht zu wiederholen. Erst werden Kapazitäten hochgefahren, dann wieder abgebaut. Das hat sich 2015 gerächt, jetzt rächt es sich erneut. Kein Vorwurf an die Kommunen – es ist teuer, Strukturen vorzuhalten. Darum arbeiten wir intensiv an Lösungen, die auf Dauer tragen.

Am sogenannten atmenden Deckel? Zahlungen angepasst an die Lage?
Genau. Damit die Kommunen nicht immer warten müssen, dass der Bund zahlt. Oder darauf, dass Markus Söder das Geld, das er vom Bund bekommen hat, tatsächlich an die Kommunen weiterreicht. Das hat er nämlich noch nicht getan. Von den Mitteln in 2022 hat die Landesregierung bisher wohl mehr als 40 Mio. Euro nicht weitergegeben.

Friedrich Merz findet, Deutschland sende noch immer zu viele Pullfaktoren.
Welche meint er denn?

Vergleichsweise hohe Leistungen für Asylsuchende oder die Tatsache, dass ukrainische Flüchtlinge sofort Bürgergeld erhalten.
Ich glaube, er verkennt die tödliche Wirkung von Bomben. Die Ukrainer etwa, die er „Sozialtouristen“ genannt hat, kommen nicht wegen Geld zu uns, sondern weil sie um ihr Leben fürchten.

Aber warum wollen so viele Flüchtlinge nach Deutschland?
Wir sind das größte Land der EU, die viertstärkste Wirtschaftsnation der Welt, eine sichere und stabile Demokratie – alles Tatsachen, auf die wir stolz sein können. Aber natürlich ist die derzeitige Belastung vieler Kommunen real. Deshalb wollen wir neben der gebotenen Humanität auch die notwendige Ordnung. Das bedeutet mehr Steuerung der Migration, aber auch eine verbindliche Verteilung in Europa. Da sperren sich Länder wie Italien bislang.

Also hat Merz Unrecht, wenn er sagt, Deutschland sende zu viele falsche Anreize?
Ja, hat er.

Also alles gut?
Natürlich nicht, aber das heißt doch umso mehr, dass wir Lösungen finden sollten, die der Dauerhaftigkeit der Aufgabe gerecht werden, statt Nebendebatten zu führen. Und um gleich noch eine Scheinlösung abzuräumen: Gerade weil es den Kommunen an Personal fehlt, haben die Rufe aus der Opposition, auf Sachleistungen umzustellen, keinen Sinn. Woher sollen in ohnehin belasteten Kommunen die Mitarbeiter kommen, die etwa Hygieneartikel einkaufen, lagern und verteilen?

Hätte man das nicht alles längst klären müssen?
Die Ampel hat vieles auf den Weg gebracht: zusätzliche Mittel für die Kommunen beschlossen, das Innenministerium verhandelt Migrations- und Rückführungsabkommen. Wir wollen außerdem dafür sorgen, dass die Menschen schneller in Arbeit kommen. Es versteht bei der jetzigen Arbeitsmarktlage kein Mensch, warum Geflüchtete nicht arbeiten dürfen. Das entlastet übrigens auch die Kassen. Und als Letztes: Alle fordern immer eine europäische Lösung. Nach zehn Jahren stehen wir endlich kurz davor.

Diese europäische Lösung haben die Grünen lange blockiert, der Kanzler musste ein Machtwort sprechen. Reagieren die Grünen nur auf Druck?
Wir hatten vor dem Sommer den Durchbruch für eine große Reform der europäischen Asylpolitik …

Unter großen Qualen bei den Grünen ...
… nein, unter großen Qualen bei 27 verschiedenen Regierungen. Das ist zehn Jahre lang nicht gelungen.

Jetzt musste der Kanzler Sie drängen, auch der Krisenverordnung zuzustimmen. Wie erklären Sie das Ihrer Partei?
Wir waren es, die gedrängt haben. Dank dieses Drucks, auch von Annalena Baerbock, wurde in Brüssel nach Monaten des Stillstands überhaupt ernsthaft verhandelt. Die ursprüngliche Krisenverordnung war für Deutschland nicht gut. Es ist gut, dass jetzt ein überarbeiteter Vorschlag auf dem Tisch liegt mit wichtigen Verbesserungen bei Humanität und geordneten Verhältnissen. Das sind unsere Leitplanken.

Nach dem AKW-Streit hat sich der Kanzler jetzt zum zweiten Mal mit einem Machtwort über die Grünen hinweggesetzt. Wie sehr schmerzt das?
Wir wollten, dass in Brüssel ernsthaft verhandelt wird. Damit haben wir uns gemeinsam durchgesetzt. Das ist gut.

Bis wann sollte die europäische Asylreform stehen?
Es wäre gut, wenn sie bis Ende des Jahres steht. Dann können die neuen Regeln noch vor der Europawahl verabschiedet werden.

Sie versuchen, Ihre Partei langsam an neue Realitäten zu gewöhnen. Braucht es eine neue Härte?
Eher eine ernsthafte Auseinandersetzung mit unseren Vorhaben. Integration, Humanität, Steuerung, gemeinsame europäische Asylpolitik, Rückführungen: Das finden Sie alles in unserem Programm. Ich wundere mich, dass manche lieber ihre Klischees über die Grünen pflegen, als sich anzugucken, was wir wirklich machen.

Was meint Vizekanzler Robert Habeck, wenn er sagt, die Grünen müssten sich neuen Wirklichkeiten stellen?
Die Wirklichkeiten verändern sich gerade maßgeblich. In einer solchen Situation muss jeder über seinen Schatten springen. Niemand hat das in den vergangenen zwei Jahren so gut vorgemacht wie Robert Habeck in der Energiepolitik.

Bei den sicheren Herkunftsstaaten könnten Sie springen. Da sperren sich die Grünen gegen eine Ausweitung. Warum?
Das Konzept ist aus zwei Gründen zweifelhaft. Erstens ist es keine echte Lösung. Im Falle von Georgien und Moldau, zwei Staaten auf dem Weg in die EU, sehen wir, dass nur wenige Menschen überhaupt betroffen sind.

Lohnt es dann den Streit?
Es gibt ein Zweitens: In den jeweiligen Staaten wird so etwas gerne als Gütesiegel für die eigene Menschenrechtslage aufgenommen und genutzt. Algerien etwa kann ein solches Siegel nun wirklich nicht bekommen. Da gibt es systematische Menschenrechtsverletzungen.

Wahrscheinlich kippen Sie irgendwann. Beim Streit um Grenzkontrollen waren Sie auch erst dagegen – und jetzt dafür.
Nein. Wie auch die Gewerkschaft der Polizei halten wir starre, stationäre Kontrollen grundsätzlich für wenig sinnvoll. Sie helfen wenig, dafür stehen Menschen an den Grenzen lange im Stau, und Unternehmen haben hohe Kosten, weil Lieferungen sich verzögern. Was die polnisch-deutsche Grenze angeht, ist die Sachlage insofern eine neue, als die polnische Regierung bisher wenig Bereitschaft gezeigt hat, den jüngsten Visa-Skandal aufzuklären. Wir wissen nicht, ob es hundert oder 350.000 Visa sind, die illegal vergeben wurden. Temporär mobile Kontrollen auszuweiten erhöht den Druck.

Kann man das Problem der irregulären Migration überhaupt steuern?
Man kann steuern. Und man muss es auch. Aber wir sollten nicht so tun, als gebe es ein sofortiges Allheilmittel. Da braucht es mehr Demut vor der Größe der Aufgabe und weniger Wahlkampfgetöse.

Im Zentrum des Geschehens: Grüne wie die bayerische Spitzenkandidatin Katharina Schulze werden öffentlich angegriffen
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© Imago Images

Die Grünen werden derzeit heftig angefeindet. Erleben Sie das auch persönlich?
Wir sind im Zentrum des Geschehens, klar. Gerade deswegen braucht es auch im Wahlkampf einen gewissen Konsens: Ja, wir kämpfen, aber bitte in der Sache und mit Anstand. Wenn sich gesellschaftliche Gräben vertiefen, wenn Menschen bedroht werden, ist das ein Problem aller Demokraten, nicht unseres allein. Wir stehen anderen Parteien bei, wenn ihnen Vergleichbares passiert. Dies sollte Konsens unter allen Demokraten sein.

Das Interview ist zuerst bei stern.de erschienen

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