Holger Schmieding ist Chefvolkswirt der Berenberg Bank. Er schreibt hier regelmäßig über makroökonomische Themen.
Griechenland steht am Abgrund. Nachdem das arg gebeutelte Land im Laufe des Jahres 2014 endlich der Rekord-Rezession der Vorjahre entkommen und ebenso wie Spanien und Irland auf einen aussichtsreichen Wachstumspfad eingeschwenkt war, hat die neue Regierung der links-rechts Populisten Hellas jetzt innerhalb weniger Monate in eine neue Krise gestürzt. Die Kapitalflucht von mehr als 50 Mrd. Euro seit dem Aufkommen des politischen Risikos Anfang Dezember ist rekordverdächtig. Immerhin entspricht dies etwa 30 Prozent der Wirtschaftsleistung des kleinen Landes. Da bleibt für Investitionen nichts übrig. Die aktuellen Zahlen deuten auf eine neue Rezession hin.
Noch hat der neue Premierminister Alexis Tsipras die Chance, das Blatt zu wenden. Aber dafür müsste er verbal abrüsten und auf einen echten Reformkurs einschwenken. Je länger er damit wartet, desto größer der Schaden.
Etwas Hoffnung können wir durchaus hegen. Denn immerhin sind die neuen griechischen Machthaber dabei, Schritt für Schritt ihre Illusionen zu verlieren. Ob sie daraus aber die richtigen Schlüsse ziehen werden, bleibt offen.
Tsipras' Kalkül geht nicht auf
Ihre erste Illusion war der Glaube, sie könnten nach ihrem Wahlsieg eine südeuropäische Koalition gegen den vermeintlichen Zuchtmeister Deutschland schmieden. Stattdessen haben sie mit ihrer substanzlosen Verbalakrobatik nahezu ganz Europa gegen sich aufgebracht. Selten waren so viele Finanzminister in Europa so sehr einer Meinung mit Wolfgang Schäuble wie nach ihren ersten Diskussionen mit Griechenlands neuem Idol für Herrenmode Yanis Varoufakis, im Nebenberuf Finanzminister in Athen. Zu glauben, dass Sozialdemokraten in Paris und Rom und Konservative in Madrid und Lissabon gerne zugunsten Griechenlands Geld abschreiben würden, um damit den Populisten im eigenen Land Auftrieb zu geben, war immer etwas naiv.
Auch mit seiner Annahme, dass Europa sich aus Angst vor den Folgen eines möglichen Ausscheidens Griechenlands aus dem Euro immer mehr Zugeständnisse abpressen lassen werde, hat Athens neuer Premierminister Tsipras Schiffbruch erlitten. Europa möchte gerne Griechenland im Euro behalten, es gehört zur Familie und liegt an geopolitischer exponierter Stelle. Das schwarze Schaf nach fünf Jahren Krisenpolitik doch noch zu verlieren, wäre peinlich.
Aber große Angst vor einem griechischen Ausstieg (Grexit) hat Europa nicht mehr. Mit ihren Anleihekäufen verhindert die Europäische Zentralbank eine ansonsten denkbare Kettenreaktion auf den Rentenmärkten. Da Banken außerhalb Griechenlands kaum noch griechische Werte halten, ist auch eine europäische Bankenkrise unwahrscheinlich. Anders als 2001 oder 2012 könnte Europa mit dem Ernstfall jetzt umgehen, auch wenn es einige kurzfristige Turbulenzen durchaus geben dürfte. Entsprechend verhandelt Europa weit härter, als die griechischen Populisten sich das gedacht hatten.
Auch die Illusion, es könnte Russland gegen Europa ausspielen oder sogar entscheidende Hilfe vom Kreml erhalten, wird Athen wohl bald verlieren. Russland selbst steckt in einer tiefen Rezession mit einem Rückgang der Reallöhne im Februar um 9,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Marode Wirtschaftsstrukturen, der auf ein langfristig gerechtfertigtes Niveau zurückgefallene Ölpreis sowie eine auch durch Sanktionen ausgelöste Kapitalflucht machen Moskau schwer zu schaffen. Sicherlich könnte Putin bei viel bösem Willen vielleicht einige Milliarden Euro als Stütze für Griechenland aufbringen, um so den Westen nachhaltig zu ärgern oder sich vielleicht sogar eine Flottenbasis zu kaufen. Aber würde das Griechenland etwas nützen?
Die Schulden sind nicht das eigentliche Problem
Die Achillesferse Athens ist das Bankensystem nicht der Staatshaushalt. Derzeit stützt die EZB die Banken bereits direkt durch Notliquidität von 70 Mrd. Euro. Auf dem Höhepunkt der letzten großen Griechenland-Krise im Juni 2012 waren es sogar etwa 120 Mrd. Euro. Das könnte die russische Zentralbank niemals stemmen. Ganz abgesehen davon, wie die Griechen reagieren würden, wenn Tsipras ihnen eines frühen Morgens eröffnen würde, ihre Bankguthaben seien ab jetzt durch die russische und nicht mehr die Europäische Zentralbank gedeckt. Was auch immer Tsipras mit Putin in den Osterferien diskutieren mag, Griechenland kann nur im Euro bleiben, wenn es sich mit seinen europäischen Partnern einigt. Denn nur dann kann die EZB ihre Liquiditätshilfen fortsetzen.
Die vielleicht größte Illusion der neuen griechischen Regierung ist, dass es im Streit zwischen Athen und Europa vor allem um Staatsschulden und Haushaltsdefizite geht. Die Schulden Athens spielen durchaus eine Rolle. Sie sind aber mehr ein Symptom als das eigentliche Problem.
Ob Griechenland seine hohen Schulden tragen kann, hängt vor allem davon ab, ob es seine Wirtschaftsleistung und damit seine Steuerbasis stärken kann und welche Zinsen es auf seine Verbindlichkeiten zahlen muss.
Europa hat Athen bereits über Jahre hinweg ein klares Angebot macht: wenn Griechenland seine Haushaltsdefizite eingrenzt und seine Wachstumskräfte stärkt, wird Europa dafür sorgen, dass die Zins- und Tilgungslast das Land nicht erdrückt. Entsprechend haben Europa und der Internationale Währungsfonds mittlerweile über 80 Prozent der griechischen Staatsschulden finanziert, und zwar zu außerordentlich günstigen Zinsen. Im Gegenzug hat Griechenland ein hartes Spar- und Reformprogramm umgesetzt und sich zu weiteren Reformen verpflichtet.
Mit Wachstum kann Griechenland seine Schulden bedienen
Durch den Mitte 2011 beschlossenen „freiwilligen Schuldenschnitt“ für private Gläubiger Griechenlands sowie durch die günstigen Bedingungen für Hilfskredite hat sich die griechische Schuldenlast bereits erheblich vermindert. Das Gerede, Griechenland müsse von der Bürde seiner hohen Schulden befreit werden, geht völlig am Thema vorbei. Wenn Griechenland seine Wirtschaft auf Wachstumskurs trimmt, kann es seinen maßvollen Schuldendienst problemlos leisten. Zwar sind die Schulden mit 175 Prozent der Wirtschaftsleistung weiterhin hoch. Aber dank der Zugeständnisse seiner Gläubiger muss Hellas nur vier Prozent seiner Wirtschaftsleistung für den Schuldendienst aufbringen. Es liegt dabei unter dem Wert für Italien.
Kann Griechenland ein Standort werden, an dem Unternehmen investieren und so Arbeitsplätze und Steuereinnahmen schaffen - oder treibt Athen Unternehmen und Arbeitsplätze durch übermäßige Regulierungswut, eine ineffiziente Verwaltung und falschen Steuerdruck aus dem Land? Vor allem unter der Regierung Samaras hatte das Land in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte gemacht. Laut OECD hat kein Land mehr echte Strukturreformen umgesetzt als Griechenland. Athen hatte es auch bitter nötig. Entsprechend entkam Griechenland Anfang 2014 seiner großen Anpassungsrezession.
Einige Ideen der neuen Regierung machen durchaus Sinn. So will sie den Rat der OECD einholen, um in einigen Wirtschaftszweigen kartellartige Strukturen aufzubrechen. Viele Vorschläge der neuen Regierung laufen aber darauf hinaus, Reformen im Arbeitsmarkt rückgängig zu machen, Leistungsanreize und -kontrollen für Mitarbeiter im öffentlichen Dienst wieder abzuschaffen, Sozialausgaben auszudehnen und gleichzeitig einige geplante Privatisierungen zu stoppen oder zu verlangsamen. Um das zu finanzieren, möchte Griechenland den Steuerdruck erhöhen.
Mehr Steuerdruck und mehr Regulierungen wären aber Gift für den Standort Griechenland und seine Steuerkraft. Ein energisches Vorgehen gegen Steuersünder ist richtig. Aber die Einnahmen sollten dazu genutzt werden, Steuersätze zu senken, statt den Ausfall von Privatisierungserlösen zu finanzieren.
Ob es Europa gelingt, die neue griechische Regierung auf einen nachhaltigen Wachstumskurs zu lenken und somit die Fähigkeit des Landes zu stärken, seine Schulden langfristig zu bedienen, ist unklar. Wir sehen ein Risiko von 25 Prozent, dass Tsipras nicht rechtzeitig aus seinen Fehlern lernt und Griechenland sich bald eine neue Währung drucken muss, da Europa einem reformunwilligen Land letztlich den Geldhahn abdrehen würde. Nach jetzigen Informationen wird Griechenland in der zweiten Hälfte April das Geld ausgehen. Es wird spannend.