Stefan Schneider ist Chefvolkswirt Deutschland von Deutsche Bank Research.
Capital: Die Griechenlandkrise scheint sich vorerst etwas beruhigt zu haben. Wie hoch ist derzeit noch die Wahrscheinlichkeit eines "Grexits"?
Stefan Schneider: Kurzfristig ist die Wahrscheinlichkeit merklich gesunken. Die Verhandlungen über ein drittes Programm könnten sich – nicht zuletzt wegen der schwierigen politischen Situation von Ministerpräsident Tsipras – zwar schwierig gestalten, wie die aktuelle Debatte über die von Griechenland zu erbringenden Vorleistungen andeutet. Zunächst dürften aber alle Beteiligten ein Interesse haben, den mühsam gefundenen Weg zu einem dritten Hilfspaket beizubehalten. Die Risiken könnten zunehmen, wenn die quartalsmäßigen Überprüfungen Verzug bei der Umsetzung vereinbarter Maßnahmen zu Tage bringen. Mögliche Neuwahlen im Herbst könnten je nach Ergebnis derartige Risiken noch verstärken.
Wäre das Risiko einer "Ansteckung" anderer Euroländer bei einem "Grexit" denn weiterhin groß?
Die Ansteckungsrisiken sind im Vergleich zu der Situation 2010 dank des erfolgten Abbaus privater Forderungen gegenüber griechischen Schuldnern, der zwischenzeitlich auf der EU-Ebene eingerichteten Rettungsmechanismen (ESM, Bankenunion) und nicht zuletzt aufgrund der vorbehaltlosen Unterstützung seitens der EZB („whatever it takes“) deutlich geringer. Trotzdem könnte ein Ausscheiden Griechenlands mittelfristig zu höheren Risikoaufschlägen für wirtschaftlich schwächere Länder in der EWU führen, insbesondere in Krisen- und Rezessionsphasen.
Teilen Sie die Einschätzung des IWF, dass auch bei einem Verbleib Griechenlands in der Eurozone ein Schuldenschnitt unausweichlich ist?
Falls die Laufzeiten seitens EU, EZB und IWF weiter gestreckt und die Zinsen weiter gesenkt werden, könnte Griechenland, vorausgesetzt es erwirtschaftet dauerhafte Primärüberschüsse, wohl im Laufe von mehreren Dekaden seine Schuldenlast auf ein tragbares Niveau absenken. Allerdings haben sich die Schuldentragfähigkeitsanalysen in der Vergangenheit als notorisch zu optimistisch herausgestellt. Auch würde ein derartiges Szenario eine nahezu übermenschliche Entschlossenheit der griechischen Regierungen über den gesamten Zeitraum voraussetzen.
„Griechenland hatte die Talsohle verlassen“
Und wie hoch ist derzeit die Wahrscheinlichkeit, dass so ein Schuldenschnitt zeitnah kommt?
Aufgrund möglicher Fehlanreize für die Reformpolitik in Griechenland aber auch für politische Kräfte in anderen Ländern mit hoher öffentlicher Verschuldung dürfte ein derartiger Schritt wohl nicht zuletzt von deutscher Seite hinausgezögert werden. Zumal ein nominaler Schuldenschnitt kurzfristig nicht erforderlich ist, sondern eine Entlastung bzw. Reduzierung des Finanzierungsbedarfs auch durch Laufzeitenstrecken und Zinssenkungen erreicht werden kann.
Zuletzt hörte man immer wieder, die griechische Regierung habe viel zu wenige Reformen umgesetzt. Auf der anderen Seite lobt die OECD bereits seit langem, Griechenland habe so stark wie noch kein Industrieland zuvor konsolidiert (gemessen am strukturellen Primärsaldo). Was stimmt denn nun?
Es ist empirisch sehr schwierig, die Wachstumswirkungen von Reformen – und darum geht es ja letztlich – ex ante abzuschätzen. Das Insistieren der Institutionen auf weitere Reformen auf dem Arbeitsmarkt, den Produktmärkten und im Finanzsektor zeigt, dass ungeachtet der von der OECD gelobten fiskalischen Konsolidierungsfortschritte, die im Übrigen durch die Entwicklung seit Jahresbeginn einen deutlichen Rückschlag erlitten haben, hier noch viel zu tun ist.
Kurz vor der Wahl von Syriza war die griechische Wirtschaft aus der Rezession raus. War Griechenland damals bereits über den Berg?
Nein, auf keinen Fall über den Berg. Aber es hatte – um im Bild zu bleiben – die Talsohle verlassen. Insbesondere am Arbeitsmarkt zeigten sich deutliche Anzeichen einer Stabilisierung, wenngleich die Gesamtsituation immer noch extrem schwierig war. Auch hatte sich die Stimmung 2014 sowohl bei den Konsumenten als auch in der Industrie etwas verbessert.
Vorbild baltische Staaten
Glauben Sie, dass das zuletzt verloren gegangene Vertrauen zeitnah zurückkommen wird?
Dies dürfte schwer sein. Innerhalb Europas dürften die zum Teil hoch emotionalen Debatten nachhaltige Spuren hinterlassen. In Griechenland selbst sieht sich die Regierung gezwungen, Maßnahmen zu implementieren, die sie selbst für falsch hält. Ganz zu schweigen von den griechischen Bürgern, denen ihre Regierung mit dem Referendum den Eindruck vermittelte, eine Wahl zu haben und die nun erleben, wie die Regierung die ökonomischen Realitäten akzeptieren muss.
Die griechischen Institutionen zu reformieren ist eine Mammut-Aufgabe. Gibt es ermutigende Beispiele von Ländern, in denen so etwas schon einmal geglückt ist?
Die Situation in Griechenland ist nicht zuletzt wegen seiner Mitgliedschaft in der Eurozone schwer vergleichbar. Allerdings haben beispielsweise die baltischen Länder mit Unterstützung durch IWF-Programme erhebliche Fortschritte erzielt. Allerdings haben sich dort auch die Regierungen und eine große Zahl von Bürgern mit den Reformen identifiziert.
Was halten Sie von einer Insolvenzordnung für Staaten, wie es der Sachverständigenrat jüngst in seinem Sondergutachten gefordert hat?
Dieser Vorschlag geht in die richtige Richtung. Damit würden die Probleme nicht mehr über ad-hoc Rettungspakete beim Steuerzahler landen oder die EZB zu einer extremen Auslegung ihres Mandates gezwungen. Zudem würde, wie der Sachverständigenrat betont, der Leitgedanke der Einheit von Haftung und Kontrolle besser umgesetzt und der Anreiz für die Kapitalmärkte, länderspezifische Risiken adäquat zu berücksichtigen, erhöht. Allerdings sollte eine Einführung wohl über einen längeren Zeitraum erfolgen, damit Investoren ihre Portfolios entsprechend anpassen können.