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Kommentar Fürchtet die Furchtlosigkeit

Je älter man wird, desto weniger Angst hat man im Job. Aber Vorsicht: Selbstzufriedenheit ist gefährlich. Von Lucy Kellaway
Angst motiviert, meint Lucy Kellaway
Angst motiviert, meint Lucy Kellaway

Lucy Kellaway ist Kolumnistin bei der Financial Times. Seit 15 Jahren schreibt sie über Managementthemen und den Büroalltag (Foto: © Picture Press)

In den vergangenen Monaten habe ich an mir etwas Seltsames bemerkt. Ich habe keine Angst mehr.

In meinem gesamten Arbeitsleben hatte ich Angst. Vor dem Scheitern. Davor, wie ein Idiot auszusehen. Angst, vor Publikum zu reden. Nicht gut genug zu sein. Und am Allerwichtigsten: Angst, dass ich auffliegen könnte.

Wenn ich eine Kurve zeichne, die meine Angst im Lebensverlauf zeigt, dann beginnt die auf ziemlich hohem Niveau. Als ich mit 21 anfing zu arbeiten, erschrak ich zutiefst, weil ich merkte, dass ich überhaupt keine Ahnung hatte. Das Keine-Ahnung-haben schützte mich damals allerdings auch vor der Erkenntnis, wie angsteinflößend die Arbeit noch werden würde.

Im Laufe der Zeit wurde ich noch viel ängstlicher als ich merkte, dass alle Anderen offenbar genau wussten, was sie taten. Jedes Mal wenn meine Angst nachließ, wechselte ich in einen neuen Job und die Angst stieg wieder. Beförderungen machten das nicht besser – sondern noch schlimmer.

Du stirbst nicht gleich

Bis zu einem gewissen Grad half es, Kinder zu bekommen, denn ein Teil meiner Ängste richtete sich danach auf sie statt auf die Arbeit. Aber das eigentliche Problem veränderte sich nicht. Etwa vor zehn Jahren stabilisierte sich meine Angst schließlich und wurde langsam weniger.

Die wiederholte tägliche Erfahrung, Dinge zumindest akzeptabel erledigen zu können, half ein wenig. Noch mehr half die Erfahrung, gelegentlich zu scheitern und dann festzustellen, dass man davon nicht wirklich stirbt. Aber dann, vor etwa ein oder zwei Jahren, veränderte sich die Bewegung und die Kurve ging steil abwärts. Seitdem gleite ich mit außerordentlichem Tempo in die Furchtlosigkeit. Wenn es so weitergeht, dann werde ich bald komplett in einem Zustand von Nach-Angst angekommen sein.

Wenn ich heute aufgefordert werde, Dinge zu tun, die ich früher schrecklich fand, dann tue ich sie ohne jedes Nachdenken. Letzte Woche hielt ich eine Dinnerrede vor einer großen Zahl wichtiger Leute, und als ich auf die Bühne stieg hatte ich das merkwürdige Gefühl, etwas vergessen zu haben. Und dann merkte ich, dass ich meine Angst vergessen hatte.

Um herauszufinden, ob es Anderen auch so geht, habe ich zuletzt eine Reihe von Leuten in etwa meinem Alter gebeten, ihre eigenen Angst-Charts zu zeichnen.

Mein vorläufiges Ergebnis ist, dass ich vollkommen typisch bin. Die Charts sehen immer ein wenig anders aus, aber es gibt gemeinsame Muster: Viele Leute zwischen 50 und 55 erleben denselben steilen Rückgang ihrer Angst in Sachen Arbeit.

Ich habe zwei oder drei Journalisten jenseits der 50 gesprochen, die mir sagten, dass es ihnen immer noch so geht wie früher. Aber die haben derart furchterregende Jobs, dass sie Idioten wären, wenn sie keine Angst hätten. Als ich den Chefredakteur der Financial Times fragte, ob er die Angst hinter sich gelassen habe, antwortete er vehement: Ganz bestimmt nicht!

Aber für die Übrigen von uns gibt es zahlreiche Gründe, in diesem Alter die Ängste zu verlieren. Zum Teil sind das dieselben Gründe, die dazu führen, dass die Leute mit Mitte 50 glücklicher werden. Der Großteil deiner Karriere liegt hinter dir, du bist weniger ehrgeizig und fällst weniger tief. Du bist finanziell besser abgesichert, die ultimative Angst, gefeuert zu werden, macht dir also wenig aus. Du hast deinen Frieden mit den Dingen gemacht, die du gut kannst – und mit denen, die du nicht kannst. Und du hast endlich bemerkt, dass viele andere Leute keineswegs so gut sind wie du immer befürchtet hattest.

In gewisser Weise ist dieser Zustand nach der Angst rundum empfehlenswert. Du gleitest durch die Woche ohne einen Knoten im Bauch. Du schläfst besser und bist generell besser gelaunt.

Für einen Angestellten ist die Furchtlosigkeit allerdings nicht in jeder Hinsicht von Vorteil. Denn sie bedeutet, dass die üblichen Hebel bei dir nicht mehr greifen.

Einer der Männer, mit denen ich bei besagtem Dinner saß, war ein ehemaliger CEO der mir sagte, dass es sehr schwierig sei, diese angstbefreiten Leute jenseits der 50 zu managen. Denn sie sind gleichzeitig die besten und die schlechtesten Mitarbeiter. Das Tolle an ihnen ist, dass man sich fast immer darauf verlassen kann, dass sie die Wahrheit sagen – und jede Organisation braucht einige furchtlose Leute, die das machen.

Die Besten und die Schlechtesten

Jenseits der Angst zu sein kann aber auch ein Desaster werden, denn es macht dich selbstzufrieden und gibt dir übertriebenes Selbstvertrauen. Beides ist umso problematischer, je höher einer auf der Leiter steigt. Wer ein Unternehmen führt und vor nichts Angst hat, der ist gefährlich und sollte vom Schreibtisch entfernt werden ehe etwas Schlimmes passiert.

Angst ist der überlebenswichtige Faktor, der eine Organisation lebendig erhält. Nicht die Angst, die ein peitschenschwingender Autokrat erzeugt. Sondern die natürliche Angst davor, nicht wirklich gut genug zu sein. Sie ist die beste Motivationskraft die mir je begegnet ist und sie ist das Einzige, was mich zuverlässig dazu bringt, mich bis aufs Blut reinzuhängen. Es ist die Angst davor, richtig schlecht zu sein, die einen davor schützt, tatsächlich richtig schlecht zu werden.

Wenn ich also den Zustand der Nach-Angst erreiche, dann könnte auch meine schlimmste alte Angst Realität werden: Ich werde schlecht in meinem Job. Es gibt also etwas Neues, vor dem ich mich fürchten muss. Frei zitiert: Das Einzige, was wir fürchten müssen, ist die Furchtlosigkeit selbst.

Copyright The Financial Times Limited 2014

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