Koalitionsverhandlungen sind gewöhnungsbedürftig, allen voran für die, die da verhandeln. Immerzu schwanken die Wochen zwischen Hoffnung und Ernüchterung. Die angehenden Koalitionspartner müssen sich nach der zügellosen Hingabe an die eigenen Überzeugungen und Wünsche im Wahlkampf nicht nur plötzlich mit den Überzeugungen und Wünschen „der anderen“ auseinandersetzen. Nein, schlimmer noch, plötzlich ist da auch noch so etwas wie eine objektive und unabweisbare Wirklichkeit, die sich nicht mehr ausblenden lässt.
„Politik beginnt mit dem Betrachten der Realität“ – diese Binse wurde im Lager der früheren Kanzlerin Angela Merkel bis zur sprichwörtlichen Erschöpfung zitiert – so oft, dass ihren Regierungen darüber jeder Funken Ehrgeiz abhanden kam, die vorgefundene Realität noch irgendwie verändern oder gar überwinden zu wollen. Der Satz klang abgeklärt-pragmatisch, aber er war im Grunde das Eingeständnis der eigenen Ideen- und Anspruchslosigkeit.
Man darf Friedrich Merz unterstellen, dass die vorhandenen Verhältnisse selten seinen eigenen Ansprüchen genügt haben. Merz, so gesetzt und seriös er auch wirken mag in seinen gutsitzenden Anzügen und mit seinen eleganten Krawatten, war in seiner ganzen politischen Karriere viel mehr der unangepasste Disruptor als der treue Parteigänger. Dass er einmal, am Ziel seiner Träume, Tabus würde brechen müssen, gehörte zu seinem Selbstverständnis – er freute sich wahrscheinlich sogar darauf.
Womit auch er allerdings wahrscheinlich nicht gerechnet hatte: dass dieser Bruch so schnell kommen muss und dass die ersten Tabus, die fallen müssten, die seiner eigenen Partei sein würden.
Schuldenbremse: Friedrich Merz' atemberaubende Kehrtwende
Am Montagmittag, kaum 18 Stunden nach Schließung der Wahllokale, stürmte Merz nun voraus und stieß eine Debatte los, die er und seine Leute zuvor über Wochen und Monate vermieden hatten. Auf die Nachfrage eines Journalisten, wie er denn mit den künftigen Mehrheitsverhältnissen zusätzliches Geld etwa für die Verteidigung auftreiben wolle, antwortete Merz ganz offen, der Bundestag mit den alten Mehrheitsverhältnissen sei ja noch bis zum 24. März im Amt, „das heißt also, wir haben jetzt noch vier Wochen Zeit, darüber nachzudenken“. Gemeint war, dass das aktuelle Parlament mit einer noch bestehenden Zweidrittelmehrheit von Union, SPD und Grünen entweder die Schuldenbremse reformieren oder ein größeres Sondervermögen für die Verteidigung bereitstellen könnte.
Selbst für eine Partei, die gerne ihre hehren Grundsätze vor sich herträgt, sich in der Regierung aber ihres Pragmatismus’ rühmt, war das schon eine atemberaubende Kehrtwende. Und sie eröffnete reichlich Raum für Spekulationen.
Dass Merz sich nicht hinstellte und versicherte, was man als erfahrener Spitzenpolitiker und angehender Bundeskanzler normalerweise auf großer Bühne zu so einer absehbaren Frage sagen würde („Glauben Sie mir, wir haben einen Plan, aber den besprechen wir jetzt als erstes mit unseren künftigen Partnern…“) lässt tief blicken: Genau diese Erfahrung, die so wichtig ist für einen Regierungschef, hat Merz eben nicht. Und er hat offenkundig auch immer noch kein Team um sich, auf das er hören würde und das ihm solche Sätze vorher aufschreibt und eintrichtert. So aber lag schon einen Tag nach seinem Wahlsieg der Blick frei auf das eigentliche und größte Problem von Friedrich Merz: Einen Plan, wie er mit dem eigenen Erfolg und den künftigen Mehrheiten im Bundestag umgehen will, hat er nicht. Dabei war ersteres seit Monaten absehbar, letzteres zumindest seit Wochen.
Immerhin, es wird nun also endlich wieder geredet über die wahren Herausforderungen, vor denen das Land steht – das ist ein echter Fortschritt, den die Wahl am vergangenen Sonntag gebracht hat. Keine Zweidrittelmehrheit im Bundestag zu haben, ist zwar ein gravierendes Problem für jede Bundesregierung, hat aber nebenbei einen sehr positiven Effekt: Die Parteien vergeuden jetzt nicht wertvolle Zeit mit wochenlangen Sondierungen, sondern fangen umgehend an mit Verhandlungen – andere realistische Optionen für die Regierungsbildung gibt es ja sowieso nicht.
Drei Optionen für die Reform der Schuldenbremse
Für den nötigen finanziellen Spielraum, den nun auch Merz und die Union suchen, gibt es grob drei Möglichkeiten – und alle haben ihre eigenen Nachteile: Option 1 wäre, lediglich eine Zahl in Artikel 87a Absatz 1a im Grundgesetz zu ändern: „Zur Stärkung der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit kann der Bund ein Sondervermögen für die Bundeswehr mit eigener Kreditermächtigung in Höhe von einmalig bis zu 100 Milliarden Euro errichten.“ Aus den 100 Milliarden könnte man mit den alten Fraktionen von SPD, Union und Grünen (ja, die Grünen würden gebraucht) einfach in den kommenden vier Wochen 200 Milliarden, 300 Milliarden oder 500 Milliarden machen.
Diese Lösung wäre leicht, birgt aber zwei Probleme: Erstens, was ist ein realistischer Betrag, der nicht nur bis 2029 reicht, sondern besser bis 2035? So viel Zeit brauchen viele Beschaffungen und Rüstungsprojekte nämlich. Und zweitens, was wird in dieser „Schmalspurvariante“ dann aus den anderen Dingen, die der SPD, den Grünen aber auch der Union wichtig sind: ein Wachstumspaket für die Wirtschaft mit umfangreichen Steuerentlastungen und höheren Investitionen?
Option 2 wäre da hilfreicher: eine umfassende Reform der Schuldenbremse selbst, die Bund und Ländern generell höhere Verschuldungsspielräume eröffnen würde. Doch diese Reform ist nicht nur komplizierter, sie schafft nicht nur Raum für viel mehr Interessenkonflikte, sondern sie ist auch unter Demokratieaspekten fragwürdig: Man würde ein kleines Zeitfenster nutzen, um die neuen Mehrheitsverhältnisse nach der Wahl auszuhebeln. Juristisch mag das gehen, politisch wäre es verheerend.
Bleibt noch eine dritte Option, die dann greift, wenn sich Union, SPD und Grüne über die beiden anderen Möglichkeiten nicht einigen: Der alte oder neue Bundestag beschließt mit einfacher Mehrheit eine Haushaltsnotlage und setzt die Schuldenbremse außer Kraft. Dann könnte die neue Regierung mit dem Haushalt 2025, der ja noch offen ist, frei schalten und walten. Dieses Manöver geht immer, hat aber einen großen Nachteil: Die rechtlichen Hürden sind sehr hoch, gut möglich, dass das Verfassungsgericht hier erneut einschreiten würde. Und wenn schon nicht im ersten Jahr, dann mit steigender Wahrscheinlichkeit in jedem weiteren Jahr. Daher spricht alles für Variante 1 oder 2.
Mächtiger Hebel für SPD und Grüne
Noch bevor Union und SPD also über die vielen drängenden Alltagssorgen und Probleme des Landes reden können, über Wirtschaft und Steuern, die Zukunft von gesetzlicher Rente und Bürgergeld, den Wohnungsbau oder die Steuerung der Migration, muss Friedrich Merz die Haushaltsfrage lösen. Er muss dies tun, um Deutschlands Verteidigungsfähigkeit aufzubauen und glaubwürdig wieder eine Rolle in der Außen- und Sicherheitspolitik beanspruchen zu können. Neben Wirtschaft und Wachstum ist dies die Kernaufgabe seiner Kanzlerschaft. Ansonsten bräuchte er, wie er selbst schon am Wahlabend einräumte, zum nächsten NATO-Gipfel gar nicht mehr anzureisen.
Der SPD und den Grünen – letztere wären ja eigentlich gar nicht mehr dabei – gibt dies noch mal einen mächtigen Hebel in die Hand: Sie bestimmen jetzt den Rahmen mit, in dem der künftige Kanzler Merz überhaupt seinen Aufgaben nachgehen kann. Gemessen am eigenen Programm und Anspruch aus dem Wahlkampf wird dies für ihn und die Union eine Zumutung sein. Es ist ihm aber zu wünschen, dass er es akzeptiert und lieber gleich eine große Lösung anstrebt – es wäre im Interesse des Landes, und auch in seinem eigenen.