Wir erstellen nach nur wenigen Wochen der Pandemie Roadmaps für Wege in die neue Normalität, der wir auch direkt den Namen „New Normal“ gegeben haben. Und diese Roadmaps sagen uns, wie wir uns unternehmerisch und als Marketeers zu verhalten haben.
Jenseits der Unklarheit, woher wir diese Klarheit und Sicherheit nehmen, wie genau jetzt jeder zu handeln habe, stellen sich für mich zwei zentrale Fragen:
Erstens: Wollen wir das, was sich derzeit als New Normal zeigt, wirklich so stehen lassen?
Denn was heißt das für unsere Zukunft? Eine Dominanz der Männer in der gesellschaftspolitischen Debatte? Ein Zementieren alter Rollenbilder? Ein perfides Kesseltreiben gegenüber Wissenschaftler*innen, weil sie Fragen stellen und Ambivalenzen artikulieren und eben nicht die eine Antwort haben? Oder aber ein Verlust der jungen Stimmen, die sich am Diskurs beteiligen? Und nicht zuletzt die schrecklichen Ereignisse in den USA: Sie machen uns deutlich, dass das New Normal vielleicht gar nicht weit entfernt ist vom „Old Normal“. Wollen wir das wirklich? Vielleicht lohnt daher doch ein Blick auf all das „nicht Normale“, das Außergewöhnliche, das wir gerade erleben und das uns Mut macht, wenn es nicht gleich wieder verschwindet.
Zweitens: Wie kann das positive Momentum, das wir in Gesellschaft und Wirtschaft gerade erleben, fortgesetzt werden?
An vielen Stellen der Wirtschaft beobachten wir nämlich auch, wie Mauern fallen, an denen wir schon lange gehämmert haben: von der Digitalisierung über die Regionalisierung bis New Work – der Schub ist gigantisch und sicher wert, genau hinzuschauen, was davon dringend bleiben muss. Wir diskutieren auf neue Weise, was gerecht und systemrelevant ist, und in der gesellschafts-ökonomischen Diskussion finden Perspektiven Aufmerksamkeit, die bislang meist nur unter Hochinteressierten diskutiert wurden. Was für ein Glück, dass wir als Gesellschaft dieses Momentum entstehen lassen.
Unsere wichtigste neue Superkraft: leichtfüßige Innovation
Was darüber hinaus stark für die Zukunft ermutigt, ist wie viel Energie, Potenzial und Erfindergeist aus jeder Ecke unserer Gesellschaft sprießt, sobald wir Unsicherheit zulassen und uns agil zeigen. Der Economist nennt es „creative disruption“: Unternehmen stemmen mit Leichtfüßigkeit Innovationsprojekte aus dem Boden, stellen Produktionsabläufe in Windeseile um und verlassen ihre Silos, um gemeinschaftlich an Innovationen zu arbeiten. Nicht nur IBM, Bosch oder Nike proklamieren ihre erfolgreichen Innovationskurse, sondern gerade der „German Mittelstand“ erweist sich als erfinderisch – von mobilen Corona-Teststationen über neue Service-Apps für Arztpraxen bis hin zur Sterneküche als Take-Away-Erlebnis.
All das zeigt die Fähigkeit, an Veränderungen nicht zu zerbrechen, sondern an ihnen zu wachsen und Neues entstehen zu lassen. Das sind Verhaltensweisen, die wir an uns selbst noch vor ein paar Monaten kaum für möglich gehalten hätten. Je schneller wir nun aber einordnen und ein New Normal manifestieren, desto weniger Chancen auf Wachstum werden wir als Volkswirtschaft und Gesellschaft haben. Denn was uns das Virus bis hierhin gezeigt hat, ist: Prognosen werden schwieriger, Agilität und damit die Bereitschaft zur Veränderung und disruptiven Kreativität werden wichtiger.
Wieviel Chancen liegen also im Corona-provozierten Balanceakt zwischen Unsicherheit und Agilität? Und wie können wir das tägliche Balancieren erträglich machen? Welche Verantwortung liegt bei uns Unternehmer*innen? Und wie stärken wir unseren Kompass? Eines scheint die Krise nahezulegen: je klarer die innere unternehmerische Vision und je deutlicher der unternehmerische Purpose, desto leichter wird agiles Navigieren fallen.
Corona gibt uns die Chance, unser gesamtes globales System zu hinterfragen
Anstatt also ein New Normal zu propagieren, könnte die Chance für uns vielleicht gerade darin liegen, ein New Normal nicht zuzulassen, sondern die Schwachstellen des bisherigen Systems weiter kritisch zu hinterfragen: Was wäre, wenn Corona immer wäre? Wie wollen wir in Zukunft leben? Wie Nachhaltigkeit herstellen? Welchen Stellenwert sollen Mensch und Menschlichkeit in Zukunft in Wirtschaft und Gesellschaft haben? Und was ist eigentlich gerecht?
Die Antworten darauf können nicht einfach sein, weil sie vielfältige Sichtweisen benötigen und damit nicht nur kompliziert, sondern komplex sind. Wir werden einen interdisziplinären Schulterschluss aus den klügsten Denker*innen und innovativsten Unternehmer*innen brauchen, um einen Entwurf für eine bessere Wirtschaft und Gesellschaft zu entwickeln. Diese Herausforderung sollten wir annehmen und deshalb zunächst weiter viele Fragen stellen, bevor wir uns mit Antworten für ein New Normal zufriedengeben.
Katrin Seegersist Managing Partner der Agentur Rethink und gehört zu den profiliertesten Köpfen der Agenturbranche. Sie ist seit fast 30 Jahren darin unterwegs. Einen Großteil dieser Zeit hat sie zuvor als Geschäftsführerin bei Scholz & Friends verbracht.