Langsam aber sicher tritt die Debatte über die Natur des Wirtschaftswachstums in eine neue Phase ein. Die auftauchenden Fragen unterscheiden sich derart von denen der letzten Jahrzehnte, dass man einen Wandel des konzeptionellen Rahmens erkennen kann, der die Diskussion über den wirtschaftlichen Fortschritt – und der Wirtschaftspolitik – von jetzt ab prägen wird.
Die erste Frage über das mögliche Tempo des künftigen Wirtschaftswachstums führte unter Ökonomen zu ernsthaften Meinungsverschiedenheiten. Robert Gordon von der Northwestern University glaubt beispielsweise, dass die US-Wirtschaft mittelfristig froh sein kann, wenn sie ein jährliches Pro-Kopf-Wachstum von 0,5 Prozent erreicht. Andere wie Dani Rodrik haben für die Entwicklungs- und Schwellenländer eine Version des Wachstumspessimismus entwickelt. Die Schlüsselprämisse, die von vielen dieser führenden Experten vertreten wird, besteht darin, dass sich der technologische Fortschritt verlangsamen werde, und damit auch die Aufholgewinne, die für Entwicklungs- und Schwellenländer am wichtigsten sind.
Auf der anderen Seite stehen die „Vertreter neuer Technologien“. Sie argumentieren, wir ständen am Beginn einer vierten industriellen Revolution, die durch „wirklich intelligente Maschinen“ bestimmt wird, welche gering und mittel qualifizierte menschliche Arbeit beinahe perfekt ersetzen könnten. Diese „Roboter“ (einige davon in der Form von Software) und das „Internet der Dinge“ würden in Bereichen wie Energieeffizienz, Transport (z.B. selbst fahrende Fahrzeuge), medizinischer Versorgung und spezialisierter Massenproduktion (durch 3D-Druck) zu enormen neuen Produktivitätszuwächsen führen.
Kapitalrendite oberhalb des BIP-Wachstums
Die zweite Frage ist die nach der Einkommensverteilung. In seinem sofort zu Berühmtheit gelangtem Buch argumentiert Thomas Piketty, grundlegende wirtschaftliche Kräfte führten zu einer dauerhaften Steigerung des Profitanteils am Gesamteinkommen, wobei die Kapitalrendite immer oberhalb des Wirtschaftswachstums liegt. Darüber hinaus wurde häufig festgestellt, dass, wenn weniger qualifizierte Arbeit durch Kapital ersetzt wird und die Ausbildungssysteme zur Bereitstellung ausreichender neuer Fähigkeiten lange Anpassungszeiten benötigen, die Ungleichheit durch größere Einkommensunterschiede zwischen hoch qualifizierten und anderen Arbeitskräften stärker zunimmt.
Vielleicht wird die US-Wirtschaft in zehn Jahren so aussehen, dass die obersten fünf Prozent – Großkapitaleigentümer, sehr hoch qualifizierte Lohnempfänger sowie global und wettbewerbsorientierte Leistungsträger – 50 Prozent des nationalen Einkommens auf sich vereinen (im Vergleich zu knapp 40 Prozent heute). Obwohl die nationalen Besonderheiten immer noch stark variieren, sind die grundsätzlichen wirtschaftlichen Trends global. Sind sie politisch nachhaltig?
Die dritte Frage betrifft die Beschäftigungseffekte der fortschreitenden Automatisierung. Wie bereits in früheren industriellen Revolutionen könnten Menschen von sehr „beschwerlicher“ Arbeit befreit werden. Beispielsweise bestünde vielleicht kein Bedarf mehr an Kassierern oder Telefonvermittlern, und es könnten weniger Buchhalter, Reise- oder Finanzberater, Fahrer u.ä. benötigt werden.
Früher in Rente?
Wenn die „Technologen“ auch nur teilweise Recht haben, wird das BIP viel höher sein. Also warum sollten wir uns nicht auf die Aussicht einer 25- bis 30-Stunden-Woche und zwei Monate Jahresurlaub freuen, während intelligente Maschinen unsere Arbeit erledigen?
Warum behaupten angesichts all dieser neuen Technologien und damit verbundener Produktivitätssteigerungen viele, jeder müsse mehr arbeiten und später in Rente gehen, wenn die Wirtschaft wettbewerbsfähig bleiben soll? Oder sind es bloß die Hochqualifizierten, die härter und länger arbeiten müssen, da es von ihnen nicht so viele gibt? In diesem Fall sollten ältere Arbeitnehmer vielleicht sogar eher in Rente gehen, um Platz für die Jungen zu schaffen, die Fähigkeiten haben, die für das neue Jahrhundert wichtiger sind. Sollte ein solcher Übergang das allgemeine BIP erhöhen, könnte das frühere Rentenalter durch Steuertransfers finanziert werden und flexibel sowie schrittweise ablaufen.
Und schließlich ist da noch die Frage nach dem Klimawandel und möglichen Einschränkungen durch begrenzte natürliche Ressourcen – Probleme, die uns in den letzten zehn Jahren vertrauter geworden sind. Werden diese Faktoren das langfristige Wachstum bremsen, oder kann ein Übergang zu einer grünen und energieeffizienten Wirtschaft eine weitere technologische Revolution auslösen und damit den Wohlstand sogar steigern?
Neuer Sozialvertrag
Während diese Fragen in der politischen Agenda immer höher rücken, wird zunehmend klar, dass der traditionelle Fokus auf Wachstum, das als Anstieg des BIP definiert und durch hundert Jahre alte wirtschaftliche Indikatoren berechnet wird, immer weniger hilfreich ist.
Art und Maßstab des wirtschaftlichen Fortschritts sollten einen neuen Sozialvertrag einbeziehen, der es der Gesellschaft erlaubt, die Macht der Technologie so einzusetzen, dass sie allen Bürgern zugute kommt. Arbeit, Ausbildung, Freizeit, Gesundheit und „Produktivität“ sollten Teil unseres Lebenskontinuums sein, und die politischen Ziele sollten sich explizit darauf beziehen, was dieses Kontinuum fördert und messbar unser Wohlergehen steigert.
Den Tendenzen zur Vergrößerung der Ungleichheit muss durch eine große Zahl politischer Instrumente entgegen gewirkt werden. Steuerpolitik und lebenslange sowie integrative und erschwingliche Ausbildung und Gesundheitsvorsorge müssen im Zentrum der Bemühungen zur Sicherstellung von Gleichheit und sozialer Mobilität stehen. Obwohl die Qualität des menschlichen Lebens auch in den Industriestaaten immer noch stark verbessert werden kann, ist es zum Erreichen dieses Zieles nicht hilfreich, sich auf das allgemeine BIP zu konzentrieren.
Die Fragen, die zum künftigen Wirtschaftswachstum gestellt werden müssen, werden immer klarer. Aber im Prozess der Schaffung eines neuen konzeptionellen Rahmens für nationale und globale Maßnahmen zur Förderung der Ursachen menschlicher Entwicklung stehen wir noch ganz am Anfang.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff
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