Wenigstens auf Olaf Scholz ist noch Verlass. So brachte in dieser Woche ein prominenter Liberaler seine Stimmung auf den Punkt. Der Kanzler habe ein Interesse an einer starken FDP, fuhr der Mann fort, denn er wisse, dass er nur mit der FDP die Chance auf eine Wiederwahl habe. Die Grünen allein reichten nicht, um seine Macht bei der nächsten Wahl zu sichern, und sie seien ja ohnehin mehr Konkurrent als Stütze. Also werde Scholz dafür sorgen, dass sich die FDP in der Koalition ab und an durchsetzen könne und ihre Erfolge bekomme.
FDP wählen, damit Scholz Kanzler bleibt – die Plakate kann man sich 2025 schon lebhaft vorstellen. Aber wie bitter muss es sein für einen so selbstbewussten und eloquenten Parteichef wie Christian Lindner, wenn die größte Hoffnung in seiner Lage Olaf Scholz heißt?
Nach der Niederlage Mitte Februar bei der Berliner Wiederholungswahl – die FDP flog mit 4,6 Prozent aus dem Stadtparlament – ist die Partei in einer desolaten Lage. Denn es könnte nur der Auftakt gewesen sein für eine ganze Reihe weiterer deprimierender Wahlergebnisse: Am 14. Mai wählt Bremen, dort liegt die Partei in Umfragen bei vier Prozent – es wäre der nächste Rauswurf. Und am 8. Oktober folgen die Wahlen in Bayern und Hessen: In Hessen kommt die FDP derzeit auf sechs Prozent der Stimmen, immerhin, in Bayern jedoch nur auf drei Prozent.
Die FDP sucht Schuldige, nur nicht bei sich selbst
Kaum 18 Monate nach der Bundestagswahl mit respektablen 11,5 Prozent und eigentlich gestärkt durch vier wichtige Ministerien im Bundeskabinett, durchlebt die Partei schon wieder eine politische Nahtoderfahrung – und hat sich als Gegenmittel offenbar für Krawall entschieden. Wenn nicht mal die eigenen Anhänger das segensreiche Wirken zur Kenntnis nehmen, muss sie eben umso lauter auftreten. Es gilt die Losung, die Parteivize Wolfgang Kubicki schon am Abend der Berliner Wahl frustriert ausgab: Ab jetzt gelte „FDP pur“, und wenn der grüne Wirtschaftsminister den Neubau von Autobahnen blockiere, dann gebe es eben auch keine neuen Stromtrassen.
Intern haben sich die Parteioberen jedoch auf Ursachenforschung begeben und vertrauen dabei auf eine alte Kernkompetenz der Liberalen: Mit eindrucksvoller Unerbittlichkeit suchen sie die Schuldigen – überall, aber nicht bei sich selbst.
Da ist zum Beispiel eine merkwürdig vertraute Erklärung, die man schon aus der letzten schwarz-gelben Koalition von 2009 bis 2013 kennt: Man habe nach der Wahl die falschen Ressorts gewählt. Es sei ein Fehler von Christian Lindner gewesen, statt des (in vielen Jahren liberal geführten) Wirtschaftsministeriums das unvertraute Finanzministerium zu wählen, heißt es dann. Schließlich müsse man es als Finanzminister immer allen anderen recht machen und habe selbst keinen Spielraum für eigene Initiativen. Dabei hatte die Entscheidung für das Ministerium während der Koalitionsverhandlungen noch als besonders kluger Schritt gegolten – immerhin kann der Kassenwart ja allen ihre Wünsche verweigern.
Die Begründung weckt Erinnerungen an eine sehr ähnliche Klage 2010/2011. Damals erklärten andere Führungsfiguren der Partei gerne, warum es falsch vom damaligen Parteichef Guido Westerwelle gewesen sei, für sich das Auswärtige Amt und nicht das für die Steuersenkungspartei eigentlich fällige, aber deutlich schwierigere Finanzressort gewählt zu haben. Wenige Monate später war Westerwelle als Parteichef gestürzt, genützt hat es der Partei allerdings nicht. Damals hieß es, die Partei habe durch den Verzicht auf das mächtige Finanzressort und die immer geforderte Steuerreform als Umfallerpartei dagestanden. Heute erklären Spitzenleute der Partei, dieses Image der Umfallerpartei führe jetzt zur Haltung „FDP pur“, koste es, was es wolle.
Ministerien ohne Gestaltungsmöglichkeiten
Auch das Verkehrs- und Digitalministerium sei die falsche Wahl gewesen, heißt es weiter. Denn dort habe – für jeden vorher erkennbar – die CSU über viele Jahre einen Saustall angerichtet, und heute tue sich hinter jeder Tür ein neuer Abgrund auf. Der tapfere Ressortchef Volker Wissing versuche nach Kräften, Ordnung ins Chaos zu bringen, allzu oft liege die Kompetenz für Verkehr und Digitales aber gar nicht in seinem Haus, sondern bei Ländern und Kommunen. Was solle er da machen?
Und so geht es immer weiter. Allen Ressorts gemein sei, auch bei Bildung und Justiz, dass die Minister nicht viel gestalten und damit auch keine Akzente für die Partei setzen könnten. Daraus ergebe sich, dass die Partei in der Wahrnehmung so schwach und blass erscheine. Der nächste Übeltäter sind die Medien, die sich ausnahmslos gegen die FDP verschworen hätten. Wann immer ein Liberaler mit einem Vorschlag um die Ecke komme, werde dieser regelrecht niedergemacht und habe keine Chance auf eine faire Bewertung.
Es ist eine ungute Mischung aus Selbstmitleid und Ratlosigkeit, in die sich die Partei so verstrickt. Ihren Ausweg aus dieser Lage sucht sie darin, den in ihren Augen gröbsten Unfug der Koalitionspartner zu verhindern: kein Aufweichen der Schuldenbremse, kein Verbot von Autos mit Verbrennermotor ab 2035, kein Tempolimit auf deutschen Autobahnen, kein überstürztes Verbot von Öl- und Gasheizungen, keine Änderung bei Indexmieten. Die Liste ließe sich fortsetzen: Auf gut 30 strittige Gesetzesvorhaben kamen die Kollegen der „Süddeutschen Zeitung“ jüngst.
„Wozu braucht es noch die FDP?“, fragte ein Anhänger in der Runde mit dem Parteipromi diese Woche, um gleich die Antwort mitzuliefern: „Damit es keine Steuererhöhungen gibt.“ Das Schlimmste verhindern, das sei die Existenzberechtigung der FDP, nicht weniger – aber auch nicht mehr.
Opfer ihres eigenen Markenkerns
Dieses Motiv ist nicht neu, aber angesichts der Umfragewerte stellt sich ja durchaus die Frage, ob dies wirklich ausreicht. Zumindest für mehr als jene drei bis etwas über fünf Prozent, die die Partei zwar zuverlässig wählen, aber keine Existenzgarantie bieten. Hier zeigt sich wahrscheinlich sogar eine strukturelle Schwäche der FDP: Sie wird auf gewisse Weise Opfer ihres eigenen Markenkerns – weil sie stets den Staat einhegen will, fällt es ihr leicht, die Konzepte der politischen Konkurrenz zu zerpflücken. Doch sie tut sich schwer damit, eigene Gestaltungskonzepte zu entwickeln. Lange war dies die Steuerpolitik, aber selbst in diesem Feld hat die Partei ihre Ambitionen aufgegeben – obwohl, oder gerade weil sie heute das Finanzministerium führt.
Besonders auffällig ist der konzeptionelle Ausfall im Verkehrs- und Digitalministerium: Statt die Deutsche Bahn und ihr marodes Gleisnetz endlich rechtlich, personell und finanziell so auszustatten, wie es nötig wäre, leistete sich der zuständige Staatssekretär des Ressorts einen grotesken PR-Gau: Der geplante Deutschland-Takt auf den Fernstrecken der Bahn werde wohl nicht in den nächsten zwei bis drei Jahren kommen, sondern eher ein Projekt bis zum Jahr 2070. Später erklärte der Mann, seine Zitate seien falsch wiedergegeben worden, dennoch ist die Kommunikation symptomatisch: Der Wille, die Bahn wirklich zu sanieren, ist nicht erkennbar. Und ähnlich sieht es bei der Digitalisierung aus: Wo sind die Initiativen der FDP, im Verkehr, in der öffentlichen Verwaltung sowie an Schulen und Hochschulen, Angebote und Dienstleistungen zu digitalisieren?
Eigentlich wollte Finanzminister Lindner in der kommenden Woche den Bundeshaushalt für 2024 vorstellen, doch die Entscheidung im Kabinett sagte er am Donnerstag kurzfristig wieder ab. Zu groß sind offenbar noch die Lücken zwischen seinem Beharren auf der Schuldenbremse und den zusätzlichen Ausgabenwünschen seiner Kabinettskollegen. Kanzler Olaf Scholz soll ihm zwar Rückendeckung zugesagt haben – aber man ahnt es: Das allein wird kaum reichen, um daraus für die FDP einen großen Erfolg zu machen.