Ein Blick auf Deutschlands Straßen zeigt: Das Fahrrad zählt zu den Corona-Gewinnern. Auch am Fahrradmarkt macht sich die erhöhte Nachfrage bemerkbar. Fachläden berichteten schon im Mai über einen Kundenansturm und lange Schlangen. Viele haben die finanziellen Verluste aus dem Lockdown bereits ausgleichen können. Einer Umfrage des Branchenverbands „Verbund Service und Fahrrad“ zufolge rechnet mehr als die Hälfte der Hersteller und Händler bereits mit einem Jahresumsätz wie im Jahr 2019 – oder sogar noch darüber.
Die Deutschen sind allerdings nicht erst durch die Pandemie und dem damit bedingten Lockdown auf's Fahrrad gekommen. Schon 2019 verzeichnete die Fahrradbranche ein Umsatzplus von 4,2 Mrd. Euro – ein Anstieg um mehr als ein Drittel im Vergleich zum Vorjahr. Der veränderte Alltag in Corona-Zeiten befeuert die bisherige Nachfrage allerdings zusätzlich.
„Die Menschen verbrachten in der Shutdown-Zeit doppelt so viel Zeit auf dem Rad wie zuvor, und der Radanteil am Gesamtverkehr hat sich verdreifacht“, bilanziert der Allgemeine Deutsche Fahrrad Club (ADFC). Die Angst vor Ansteckung spiele im öffentlichen Personenverkehr eine wichtige Rolle, bilanziert das Beratungsunternehmen McKinsey in einer Analyse. Das Fahrrad als virenfreie Alternative zum Pendeln und für den Urlaub ist eine beliebte Option.
Bestimmte Modelle „nicht zur Verfügung“
Mittlerweile sorgt der Boom aber auch für erste Engpässe. „Bestimmte Radmodelle stehen nicht zur Verfügung, das mag regional unterschiedlich sein“, sagt VSF-Geschäftsführer Albert Herresthal. „Wer ein gutes Rad sucht, wird eins finden. Nur vielleicht nicht genau das, was er sich vorgestellt hat.“ Besonders gefragt sind aktuell E-Bikes, Kinder- und Enstiegsräder. „Auch für höherwertige Räder, die man für Reisen benutzen kann, gibt es jetzt viele Interessenten“, sagt Herresthal.
Grund für die Engpässe sind die internationalen Lieferketten. Bereits seit dem Shutdown in Asien Mitte Februar kam es immer wieder zu Unterbrechungen und Störungen. Auch Herresthal berichtet von „Verzögerungen“. „Wenn in China oder Taiwan Fahrradprodukte bestellt wurden, die mit dem Containerschiff nach Europa gebracht werden sollten, ist dieses Containerschiff mit den verschiedensten Sachen bestückt. Wenn aus einer anderen Branche, die mit Fahrrädern nichts zu tun hat, etwas fehlt und das Schiff halbvoll ist – dann fährt es nicht“, erklärt er.
Das beeinflusst auch die Produktion. „Seitdem konnte nur erschwert beziehungsweise gar nicht produziert und der Abverkauf nicht gewährleistet werden,“ erklärt David Eisenberger vom Zweirad-Industrie-Verband e.V. (ZIV). „Die Lager der Fahrradhändler waren durch die Vorbestellungen der Händler vor Corona schon voll. Durch die Produktionsausfälle ist die Produktionsplanung dahin.“
„Man versucht mit Hochdruck nachzuproduzieren“
Dass es im Juli schwierig ist, ein Fahrrad zu bekommen, ist allerdings auch unter normalen Bedingungen möglich. „Wir haben einen Jahreszyklus von neuen Modellen. Die Modelle von 2020 erscheinen immer schon 2019 und werden im Frühjahr 2020 geliefert“, erklärt Herresthal. „Wenn es eine starke Nachfrage gibt, kann es immer wieder der Fall sein, dass man ein bestimmtes Modell im Juli nicht mehr bekommt, weil es nur in einer bestimmten Menge produziert wurde. Dann muss man auf das Modell von 2021 warten.“

Auch Wasilis von Rauch, Geschäftsführer des Verbands „Zukunft Fahrrad“ rechnet nicht damit, dass die Knappheit länger anhält. Die Kapazitäten werden ausreichen, um das aufzufangen, auch wenn es möglicherweise nicht alle Farben und Modelle gibt, so seine Einschätzung. Die 2021er Modelle kommen zudem eventuell etwas früher als sonst. Dann wird sich die Situation auflösen: „Ich gehe davon aus, dass das insgesamt dazu führt, dass die Hersteller im nächsten Jahr mehr produzieren.“
Allerdings sind nicht alle in der Branche so optimistisch. Im dritten Quartal könnte sich die Situation weiter verschärfen, befürchtet Eisenberger. „Man versucht mit Hochdruck nachzuproduzieren, immer noch vor dem Hintergrund der Hygienebestimmungen und Corona“, sagt er. „Von einer endgültigen Normalisierung gehen wir in dieser Saison, die noch bis Oktober geht, nicht aus. Erst im nächsten Jahr.“
Keine Angst vor steigenden Preisen
Kunden müssen daher länger auf ihre Wunschräder warten oder im Zweifelsfalle auf ein anderes Modell umsteigen. Auch bei Reparaturen und Ersatzteilen ist mittlerweile Geduld gefragt, denn auch Fahrradwerkstätten bekommen die erhöhte Nachfrage zu spüren. Auch bei kleineren Händlern kann der Verkauf neuer Fahrräder gegenüber Reparaturen zeitweise vorgehen, sagt von Rauch.
Preislich sollte auf dem Fahrradmarkt allerdings alles beim Alten bleiben. Daran dürften auch die aktuellen Engpässe nichts ändern. „Man hat in der Vergangenheit nicht gesehen, dass Verknappung im Fahrradhandel die Preise nach oben treibt“, so Eisenberger.
Neben Deutschland erlebt das Fahrrad auch in vielen weiteren Ländern eine ungeahnte Nachfrage. In den USA verzeichnete der Fahrradhandel allein im März ein Plus von 40 Prozent. Nachdem die britische Regierung dazu aufrief, öffentliche Verkehrsmittel, wenn möglich zu vermeiden, schwappte der „Fahrradboom“ auch auf Großbritannien über. Im April stieg der Verkauf von Fahrrädern um 60 Prozent, der von E-Bikes um 50 Prozent im Vergleich zum ersten Quartal. Und auch in Frankreichs Hauptstadt Paris waren Mitte Mai, direkt nach Ende der Ausgangssperre, 30 Prozent mehr Radfahrer auf den Straßen.

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