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Dieselskandal Winterkorn vor Gericht: „Ich sehe dieses Schreiben zum ersten Mal“

Martin Winterkorn vor Gericht in Braunschweig
Der ehemalige VW-Manager Martin Winterkorn als Zeuge vor dem Oberlandesgericht Braunschweig
© dpa / Julian Stratenschulte / Picture Alliance
Ex-VW-Chef Martin Winterkorn sagt im Mammutprozess gegen den Autobauer als Zeuge aus. An vieles kann sich der Manager angeblich nicht mehr erinnern – aber die Verantwortung weist er weit von sich

Der Congress Saal der Stadthalle Braunschweig ist voll: Wo sonst Konzertbesucher klassischer Musik lauschen, sitzen an diesem Mittwochmorgen kritisch blickende Journalisten und noch kritischer blickende Aktionäre der Volkswagen AG. Sie lauschen auch keiner Geige oder Harfe, sondern der tiefen Stimme des prominentesten Gastes an diesem Tag: Ex-VW-Konzernchef Martin Winterkorn.

Der Mann, der acht Jahre lang den größten Automobilkonzern der Welt führte, mag etwas gealtert sein. Die Krawatte ist leicht verrutscht, aber der schwarze Anzug sitzt. Der Manager, den der Dieselskandal 2015 seinen Job kostete, wirkt mit 76 Jahren keineswegs gebrochen oder altersmilde. Er antwortet ruhig auf die Fragen desjenigen, der ihm auf einem erhöhten Podest gegenübersitzt: Christian Jäde. Der Richter und Vizepräsident am Oberlandesgericht Braunschweig muss entscheiden, ob die Klage Tausender VW-Anleger gegen den Autokonzern Erfolg hat und sie Recht bekommen.

Winterkorn streitet Vorwürfe ab

Nach der Belehrung durch Jäde gibt Winterkorn eine Eingangserklärung ab. Schnell wird klar: Er ist nicht gekommen, um reumütig sein – oder sein gutes Gedächtnis unter Beweis zu stellen. Winterkorn streitet ab, von den Abgasmanipulationen beim VW-Diesel gewusst zu haben. „Ich war nicht in die Entwicklung der Umschaltfunktion eingebunden, habe sie weder gefordert noch gefördert oder ihren Einsatz auch nur geduldet.“ Die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft seien „unzutreffend“.

Jäde versucht Winterkorn einzukreisen, so scheint es. Er legt Dokumente vor, die darauf hinweisen sollen, dass der Ex-Manager schon im Jahr 2000 von ersten Ideen zur Reduzierung von Abgaswerten gewusst haben könnte. Jäde will wissen, inwieweit Winterkorn mit den Details der Manipulationssoftware vertraut war. „An diese Zeit – es ist lange her – erinnere ich mich nicht mehr genau“, weicht Zeuge Winterkorn aus. Er verfolgt damit eine Strategie, die auch schon seine beiden Nachfolger Matthias Müller und Herbert Diess angewandt haben. Auch sie wiesen für Top-Manager bedenkliche Erinnerungslücken auf.

„Ich sehe dieses Schreiben zum ersten Mal“

Nach einer ersten kleinen Pause scheint sich die Stimmung im Saal zu verändern. Richter Jäde konfrontiert nun klarer, Zeuge Winterkorn beginnt seine Einlassungen ab jetzt immer mit „Herr Vorsitzender“. Inhaltliche Details gibt er dennoch nicht preis.

Jäde legt ein Schreiben des Autozulieferers Bosch an VW aus dem Jahr 2008 vor. Darin fällt das erste Mal das Symbolwort des Dieselskandals: „Defeat Device“ – die englische Bezeichnung für Abschalteinrichtung, die VW einsetzte, um die Abgaswerte seiner Diesel zu drücken. „Sagt Ihnen dieser Begriff etwas?“, fragt Jäde Richtung Zeugenbank. „Ich sehe dieses Schreiben zum ersten Mal“, sagt Winterkorn. Auch habe er den Begriff bis zum Bekanntwerden des Skandals am 18. September 2015 nie zuvor gehört. Es scheint, als breche Winterkorns Stimme, als er dieses für sein Berufsleben so schicksalhafte Datum ausspricht.

Einige Zuschauer auf der Seite der Anleger schütteln immer wieder den Kopf oder tuscheln miteinander. Seine mitunter trockenen Antworten sorgen sogar für Gekicher im Saal.

Musterklage in Milliardenhöhe

Es geht um viel an diesem für Winterkorn ersten Prozesstag in Braunschweig. Dieser Mammutprozess gegen VW läuft seit 2018. Es ist ein Verfahren nach Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG). Dies ermöglicht Anlegern, in Deutschland kollektiv Schadensersatzansprüche geltend zu machen. 

Die Deka Investment als Fondshaus der Sparkassen ist dabei Musterklägerin und vertritt Anleger, die Schadenersatz aufgrund von Kursverlusten in Milliardenhöhe fordern. Diese sollen sie erlitten haben, nachdem der Skandal aufgedeckt wurde. Die Beklagten sind die Volkswagen AG und die Dachholding Porsche SE.

Mit einem schnellen Ergebnis rechnet in diesem Fall niemand mehr. Es wird erwartet, dass das Verfahren sich noch über einen längeren Zeitraum erstreckt und weitreichende Auswirkungen auf die beteiligten Unternehmen haben könnte.

Ablauf des Dieselskandals

Von 2007 bis 2015 war Winterkorn Vorstandsvorsitzender der Volkswagen AG – so lange wie einst nur Heinrich Nordhoff, der das Unternehmen in den 1940ern aufbaute. Winterkorn prägte den Konzern maßgeblich, nicht umsonst wurde er „Mr. Volkswagen“ genannt. 2015 nahm seine Karriere bei dem Autobauer dann ein jähes Ende: Am 18. September 2015 warf die US-Umweltbehörde EPA dem Konzern öffentlich Betrug vor. VW habe Abgaswerte manipuliert.

Als die Börse nach der Meldung der EPA wieder öffnete, rutsche der Kurs der VW-Aktie damals in den Keller. Tausende Anleger verloren Millionen von Euro. Fünf Tage später trat Winterkorn zurück. Die Hintergründe und Folgen der Manipulation gingen als Dieselskandal in die Geschichte ein. Sie bekommt mit dem ersten öffentlichen Auftritt Winterkorns seit Jahren nun ein weiteres Kapitel hinzu.

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